Der Sand der Zeit
überraschend niedrig war, selbst für mexikanische Verhältnisse. Havilland schien es wirklich verdammt eilig zu haben, mich wieder loszuwerden.
Das Meer war ungewöhnlich ruhig. Während der Nacht hatte es Sturm gegeben, aber gegen Morgen hatte sich der Wind gelegt, und seit beinahe einer Stunde war es sogar völlig windstill. Es war auch nicht mehr so kalt wie am Vortag, obwohl mir ein eisiger Hauch von der Wasseroberfläche entgegenschlug, als ich das Boot betrat.
Becker trug mein Gepäck unter Deck, und Crandell ging ins Ruderhaus und startete die Maschine. Überrascht beobachtete ich, wie Becker sich daranmachte, die Taue zu lösen, die das Boot am Steg hielten.
»Sie fahren mit?« fragte ich.
»Der Professor hat mich darum gebeten«, antwortete er mit erstaunlicher Offenheit. »Es ist nur eine Stunde hin und zurück.«
»Und er wollte sichergehen, daß ich auch wirklich verschwinde«, fügte ich finster hinzu.
Becker wirkte fast verlegen, als er nickte. »Ich fürchte, ja«, gestand er. »Sie müssen Havilland verstehen, Mr. Craven. Er hat eine Menge schlechter Erfahrungen gemacht, seit er seine Forschungsergebnisse veröffentlicht hat.« Er machte eine gleichzeitig entschuldigende wie erklärende Geste und griff nach der niedrigen Reling, als sich das Boot mit einem leichten Ruck in Bewegung setzte. »Kennen Sie seine Theorie?«
»In groben Umrissen«, gestand ich. Fröstelnd schlug ich den Jackenkragen hoch und blickte auf das Meer hinaus. Die Kälte war jetzt deutlicher zu spüren, aber irgendwie bereitete mir der Gedanke, unter Deck zu gehen, Unbehagen.
»Ich habe sie zu Anfang auch nicht geglaubt«, fuhr Becker fort. »Aber er hat mich überzeugt. Ich glaube, daß er recht hat.
Und Ihr … Erlebnis scheint das ebenfalls zu beweisen.«
»Was?« fragte ich. »Daß die Wikinger vor Kolumbus hier waren? Das weiß doch jedes Schulkind.«
»Eben nicht«, antwortete Becker. »Es gibt Vermutungen, daß sie in Nordamerika waren, aber das hier …« Er stockte, schien nach Worten zu suchen. »Es würde so viel erklären.
Havillands Funde beweisen, daß mindestens eine Expedition der Wikinger auch Mittelamerika erreichte. Und es gibt Legenden der Azteken.«
»Was für Legenden?« fragte ich.
»Die weißen Götter der Mayas und Azteken«, erläuterte Becker. »Ihre Legenden sind voll davon, weiße Götter, die aus dem Norden kamen, über das Meer. Bisher waren es nur Legenden, aber jetzt …«
»Dann verstehe ich um so weniger, warum Havilland mein Angebot, ihn bei seinen Forschungen zu unterstützen, nicht annimmt«, sagte ich aufgebracht.
»Er kann es nicht, Mr. Craven«, sagte Becker ruhig. »Glauben Sie mir, ich habe versucht, ihn zu überzeugen.«
»Ich weiß«, sagte ich.
Becker war überrascht. »Können Sie auch Gedanken lesen?« fragte er amüsiert, aber auch ein ganz kleines bißchen verunsichert.
»Nein«, gestand ich. »Ich habe an der Tür gelauscht.«
Becker grinste. »Es ist nicht so, daß wir Ihnen nicht glauben, Mr. Craven«, sagte er. »Im Gegenteil. Havilland war tief beeindruckt von Ihren Aufzeichnungen.«
»Aber warum nimmt er mein Angebot dann nicht an?«
»Weil er es sich nicht leisten kann«, antwortete Becker ernsthaft. »Bitte nehmen Sie es nicht persönlich, aber Sie haben es selbst gesagt: Sie sind kein Wissenschaftler, sondern ein …«
»Magier«, half ich ihm aus, als ich spürte, daß er Hemmun-gen hatte, das Wort auszusprechen.
»Ja«, sagte Becker. »Genau das ist es. Der Professor befindet sich in einer äußerst prekären Situation. Die meisten seiner Kollegen lehnen seine Theorie ab. Man hat ihn in den letzten Jahren wiederholt angegriffen, hat versucht, ihn lächerlich zu machen. Wenn jetzt herauskäme, daß er sich von jemandem wie Ihnen helfen läßt …«
»Ich verstehe«, sagte ich.
»Nein«, behauptete Becker überzeugt. »Das glaube ich nicht. Sehen Sie, es ist so, daß wir ganz kurz vor dem endgültigen Durchbruch stehen. Havilland ist felsenfest davon überzeugt, daß es sich bei dem Toten, den Sie gesehen haben, um Leif Erickson handelt. Und er glaubt, es beweisen zu können. Aber er darf jetzt nicht das geringste Risiko eingehen. Nicht in dieser Situation.«
Ich dachte an den Schatten, den ich gesehen hatte. Für einen Moment war ich nahe daran, Becker davon zu erzählen, aber dann tat ich es doch nicht. Becker würde mir nicht glauben, das wußte ich.
»Leif Erickson«, murmelte ich. »Ist er sich da ganz sicher?«
Becker schwieg einen
Weitere Kostenlose Bücher