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Der Sand der Zeit

Titel: Der Sand der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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knirschte hörbar unter meinem Gewicht, und für einen winzigen Moment fürchtete ich, glattweg durch den Boden zu brechen. Aber er hielt.
    Becker sah sich einen Augenblick unschlüssig um, nahm das Tauende auf und ging damit zum Bug des Wikingerbootes. Sorgfältig knotete er es um den Hals des geschnitzten Drachen, überzeugte sich von seinem festen Sitz und drehte sich wieder um. Sein Blick glitt über den schlammbedeckten Boden.
    »Unglaublich!« sagte er immer wieder. Erregt kam er auf mich zu, packte mich bei den Rockaufschlägen und schüttelte mich, bis ich seine Hand mit sanfter Gewalt abstreifte.
    »Das ist ungeheuerlich!« rief er aufgeregt. »Wissen Sie eigentlich, was wir da gefunden haben?«
    Ich glaubte es zumindest zu wissen, aber es gefiel mir nicht.
    Mit jeder Sekunde, die ich an Bord dieses Schiffes verbrachte, fühlte ich mich unwohler. Für einen Moment hatte Beckers wissenschaftliche Euphorie mich mitgerissen, aber das Gefühl verging rasch, und zurück blieben ein deutliches Gefühl der Beklemmung und eine ganze Menge ungelöster Fragen, die mir ganz und gar nicht gefielen, wie zum Beispiel die, wo dieses Boot herkam, ausgerechnet jetzt. Ich zweifelte nicht an Beckers Behauptung, dieses Schiff sei Teil von Leif Ericksons Flotte gewesen, ganz im Gegenteil: Ich wußte, daß es so war.
    Aber das bedeutete, daß dieses Schiff tausend Jahre lang auf dem Meeresgrund gelegen hatte, eingehüllt in Schlick und Muschelkalk, und, verdammt noch mal, Schiffswracks lösen sich nicht einfach vom Meeresgrund und steigen wieder auf.
    »Unglaublich!« stammelte Becker. Erregt ließ er sich auf die Knie herabfallen und grub etwas Kleines, Glänzendes aus dem Schlamm, der das Deck fast knöcheltief überzog.
    »Schauen Sie sich das an, Craven!«
    Vom Deck unseres eigenen Bootes erklang ein gellender Schrei.
    Ich fuhr herum, blickte erschrocken hinüber und sah, daß Crandell wie gebannt in Richtung der Nebelwand starrte.
    Und mein Herz machte einen schmerzhaften Sprung, als ich den Blick wandte und ebenfalls in das wogende graue Nichts sah. Die Schatten, die wir beobachtet hatten, waren nähergekommen. Aber es waren keine Schatten mehr.
    Es waren … Schiffe.
    Schiffe wie das, auf dem wir selbst standen!
    Drei, vier, schließlich fast ein halbes Dutzend schlanker, drachenköpfiger Wikingerboote brachen aus der Nebelwand und hielten direkt auf uns zu. Sie waren in ähnlich verrotte-tem Zustand wie das Boot, auf dem wir uns befanden, die Rümpfe waren mit Schlamm und Muschelkalk verkrustet, die Segel hingen in Fetzen von den Rahen. Trotzdem bewegten sie sich mit einer geradezu unglaublichen Geschwindigkeit.
    Becker schrie gellend auf, und ich selbst hatte das Gefühl, von einer eisigen, unsichtbaren Hand gestreift zu werden, als die Schiffe nahe genug waren, daß wir mehr Einzelheiten erkennen konnten: Auch hinter ihren Bordwänden reihten sich runde, von Rost und Jahrhunderten zernagte Schilde, genau wie auf diesem Boot. Aber anders als bei diesem waren die Decks der Schiffe nicht leer! Über die Ränder der metal-lenen Schilde blickten Dutzende von grauen, mit gewaltigen Hörnerhelmen gekrönte Totenschädel …
    Und die Toten bewegten sich!
    Die Schiffe waren schon fast heran, als Becker und ich endlich aus unserer Erstarrung erwachten. Wir wirbelten herum und rannten mit weit ausgreifenden Schritten auf Crandells Yacht zu.
    Becker schaffte es. Und ich auch, beinahe.
    Ich war noch einen Schritt von der Reling des Wikingerbootes entfernt, als die morschen Planken unter meinen Füßen nachgaben. Ich spürte, wie ich einbrach, warf mich mit einer verzweifelten Bewegung nach vorne und bekam den rostigen Rand eines der Rundschilde zu fassen.
    Alles geschah gleichzeitig: Ich sah, wie Becker mit einer kraftvollen Bewegung auf das höher gelegene Deck der Yacht hinaufflankte, wie Crandell mit einem einzigen Satz im Ruderhaus verschwand und Becker wieder herumfuhr, mit ausgestreckten Armen nach meinen Händen greifend, um auch mich in Sicherheit zu ziehen. Gleichzeitig gab das morsche Holz unter meinen Füßen endgültig nach; ich brach bis an die Hüften ein, klammerte mich aus einem blinden Reflex heraus noch fester an den rostzernagten Schild und schrie vor Schmerz, als das spröde Eisen wie ein Messer in meine Handflächen schnitt. Blut lief an meinen Armen herab und tropfte auf das Deck.
    Und im gleichen Moment erwachten die Schatten.
    Es war, als würde eine unsichtbare Tür aufgestoßen, eine Tür in eine düstere,

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