Der Sand der Zeit
wie Glas. Seine Füße fanden keinen Halt. Er glitt aus, stürzte und schlug mit einem dumpfen Schmerzenslaut auf der Schulter auf.
»Streng dich nicht an«, sagte Erickson ruhig. »Ihr seid in Sicherheit. Die Wand hinter euch wird sich öffnen, sobald die Sonne im Zenit steht. Wenn ihr dem Gang folgt, gelangt ihr in die Halle, von der ich euch erzählt habe. Von dort aus führt der Weg ins Freie. Euch wird nichts geschehen.«
»Was bedeutet das, Erickson?« fragte ich halblaut. »Hast du uns wirklich die ganze Zeit über betrogen?«
»Betrogen?« Erickson lachte, leise und sehr bitter. »O nein, Robert aus Britannien. Ich versuche nur, das Leben dieses jungen Narren neben dir zu retten, seines und das seines Volkes.«
»Was hast du vor?«
»Was ich von Anfang an hätte tun sollen«, antwortete Erickson entschlossen. »Ich werde gehen und ihn vernichten. Nur ich allein.«
»Verräter!« kreischte Setchatuatuan. »Ich werde dich töten, Erickson. Ich werde dich jagen bis ans Ende der Welt, ganz egal, wie lange es dauert!«
»Das glaube ich nicht«, murmelte Erickson sanft. »Dorthin, wohin ich gehe, kann mir niemand folgen. Du wirst leben, Setchatuatuan, du und dein Volk. Wenn die Sonne im Zenit steht, wird sich dieser Raum öffnen, und du kannst zu deinem Volk hinausgehen. Führe es gut, du junger Hitzkopf. Du kannst es.«
Ich wollte noch eine Frage stellen, aber Erickson hob die Hand und berührte eine Stelle an der Wand neben der Tür.
Mit einem dumpfen Krachen senkte sich eine zentnerschwe-re Steinplatte vor den dreieckigen Durchgang.
Es war kalt geworden hier unten. Während wir durch die Höhle und anschließend durch diese entsetzlichen Katakomben marschiert waren, hatte ich nicht gespürt, wie tief die Temperaturen hier drinnen waren, aber jetzt, nach Stunden,
wie mir vorkam,, die ich reglos auf dem eisigen Steinboden gehockt hatte, zitterte ich vor Kälte am ganzen Leib.
Mein Zeitgefühl war durcheinandergeraten, genarrt wie alle meine Sinne von dieser bizarren, fremdartigen Umgebung, aber ich war trotzdem sicher, daß die Nacht fast vorüber sein mußte. Immer wieder irrte mein Blick zur Rückwand der Kammer. Aber der schwarze Fels rührte sich nicht.
»Vielleicht hat er ja die Wahrheit gesagt«, knurrte Lasse neben mir. Ich sah auf, versuchte zu lächeln und wurde übergangslos wieder ernst. Der Wikinger hatte meinen Blick bemerkt, aber es wäre auch so nicht schwer gewesen, meine Gedanken zu erraten. Wir hatten keinerlei Garantie, daß sich unser Gefängnis wirklich nach Ablauf der genannten Frist öffnen würde. Es konnte genausogut sein, daß wir hier unten verdursteten, wenn wir nicht vorher erfroren. Wir saßen in einer Falle, aus der wir aus eigener Kraft niemals wieder herauskommen würden.
Setchatuatuan und seine Krieger hatten es versucht. Die Männer hatten eine lebende Pyramide gebildet und sich die spiegelglatte Rampe hinaufgearbeitet, bis sie die Tür erreichen konnten. Es war sinnlos gewesen. Die tonnenschwere Felsplat-te saß unverrückbar an ihrem Platz, so genau eingepaßt, daß sie nicht einmal die Klinge eines Messers in den Spalt darunter schieben konnten. Wir waren lebendig begraben.
Wenn Erickson wirklich gelogen hatte … Ich verscheuchte den Gedanken mit einem lautlosen Seufzer, stand auf und begann unruhig in der winzigen Kammer auf und ab zu gehen. Das Geräusch meiner Schritte klang seltsam laut und störend, und mir fiel erst jetzt auf, wie still die Männer geworden waren. Selbst Setchatuatuan, der fast eine halbe Stunde lang geschrien und getobt und Leif Erickson verflucht hatte, hatte sich in einer Ecke zusammengekauert und war in dumpfes Brüten versunken.
»Es muß einfach einen Weg hier heraus geben«, murmelte Lasse Rotbart. Er stand ebenfalls auf, starrte einen Moment zu der geschlossenen Tür am oberen Ende der Rampe hinauf und drehte sich dann mit einem Ruck um.
»Er hat es doch auch gekonnt!« Mit einem schnellen Schritt trat er an die rückwärtige Wand der Kammer, preßte die Hände gegen den Fels und drückte mit aller Gewalt. Ich konnte sehen, wie sich seine Muskeln spannten.
»Laß es sein, Lasse«, murmelte ich. »Es ist doch sinnlos.«
Wir hatten die Wand abgesucht, Millimeter für Millimeter auf der Suche nach einem Spalt, einem verborgenen Mecha-nismus, irgendeiner Möglichkeit, sie zu öffnen, so wie es Leif Erickson getan hatte. Aber wir hatten nichts gefunden.
Lasse wandte sich mir mit einer wütenden Bewegung zu. In seinem Gesicht
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