Der Sandmann: Kriminalroman (German Edition)
Brief?«
Anders Rönn weiß nicht, ob Petra hereingekommen ist, hat aber das Gefühl, dass sie hinter seinem Rücken steht und sie beide beobachtet.
»Ich erinnere mich nicht genau«, sagt er und merkt unangenehmerweise, dass er errötet, »aber es war ein formales Schreiben an eine Anwaltskanzlei … und das betrachte ich als ein Menschenrecht.«
»Ja«, erwidert der Kriminalkommissar, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
»Jurek Walter hat in dem Schreiben um den persönlichen Besuch eines Anwalts gebeten, um sich mit ihm über die Möglichkeiten zu beraten, bei Gericht die Prüfung einer vorzeitigen Haftentlassung zu beantragen … das war es in etwa, was er wollte … und dass er in einem solchen Fall … falls es zu einer Prüfung kommen sollte, einen privaten Verteidiger haben wolle, der ihm beisteht.«
Es wird still im Wohnzimmer.
»Wie lautete die Adresse?«, fragt der Kriminalkommissar ruhig.
»Kanzlei Rosenhane … eine Postfachadresse in Tensta.«
»Könnten Sie die exakten Formulierungen in dem Brief rekonstruieren?«
»Ich habe ihn nur einmal gelesen, und er war wie gesagt sehr höflich und formal gehalten … auch wenn es eine ganze Reihe von Rechtschreibfehlern darin gab.«
»Rechtschreibfehler?«
»Eher dyslektische Fehler«, verdeutlicht Anders Rönn.
»Haben Sie mit Roland Brolin über diesen Brief gesprochen?«
»Nein«, antwortet Anders. »Warum sollte ich?«
117
Joona kehrt zu seinem Auto zurück und fährt Richtung Stockholm. Er ruft Anja an und bittet sie, nach der Anwaltskanzlei Rosenhane zu suchen.
»Weißt du eigentlich, wie viel Uhr es ist?«
»Wie viel Uhr«, wiederholt er und muss an Marie Franzén denken, die nur zwei Stunden zuvor erschossen wurde. »Ich … entschuldige, wir verschieben das auf morgen.«
Dann bemerkt er, dass sie längst aufgelegt hat. Es vergehen nur zwei Minuten, bis sie ihn wieder anruft.
»Es gibt keinen Rosenhane«, berichtet sie. »Es gibt weder eine Anwaltskanzlei noch einen Anwalt dieses Namens.«
»Es gab eine Postfachadresse«, beharrt Joona.
»Ja, in Tensta, die habe ich gefunden«, erwidert sie sanft. »Aber die ist gekündigt worden und der Anwalt, der das Postfach gemietet hat, existiert nicht.«
»Ich verstehe …«
»Rosenhane ist übrigens der Name eines ausgestorbenen Adelsgeschlechts«, sagt sie.
»Entschuldige, dass ich dich so spät noch angerufen habe.«
»Das war ein Witz, du darfst mich anrufen, wann immer du willst, immerhin wollen wir beide heiraten …«
Die Adresse ist eine Spur, die ins Nichts führt, denkt Joona. Kein Postfach, keine Anwaltskanzlei, kein Name.
Er denkt an den seltsamen Umstand, dass Anders Rönn Jurek Walter als Dyslektiker bezeichnet hat.
Ich habe gesehen, wie er schreibt, überlegt Joona.
Was Anders Rönn als Dyslexie aufgefasst hat, ist wahrscheinlich eine Folge des langjährigen Konsums von Psychopharmaka.
Wieder kehren seine Gedanken zu Marie Franzén zurück, die von Susanne Hjälm getötet wurde. Jetzt sitzt irgendwo ein Kind und wartet auf eine Mutter, die nie mehr heimkehren wird.
Sie hätte nicht vorpreschen dürfen, aber er weiß, dass er den gleichen Fehler hätte machen können, wenn er das Einsatztraining nicht so verinnerlicht hätte – und dann wäre er genauso getötet worden wie sein Vater.
Marie Franzéns Tochter Elsa hat es inzwischen vielleicht schon erfahren. Die Welt wird nie wieder die gleiche sein. Als er selbst elf war, wurde sein Vater mit einer Schrotflinte erschossen. Er war Polizist und wollte nur in eine Wohnung gehen, um einen Familienstreit zu schlichten. Joona erinnert sich täglich irgendwann daran, wie es war, als er im Klassenzimmer saß und der Rektor eintrat und ihn bat mitzukommen. Die Welt sollte danach nie wieder die gleiche sein.
118
Es ist Vormittag, und Jurek Walter geht mit großen Schritten auf dem Laufband. Saga hört seine schweren Atemzüge. Im Fernsehen erklärt ein Mann, wie man selbst Gummibälle herstellt. Bunte Kugeln schaukeln in diversen Wassergläsern auf und ab.
Saga ist von widersprüchlichen Gefühlen erfüllt. Ihr Selbsterhaltungstrieb sagt ihr, dass sie jeden Kontakt zu Jurek Walter vermeiden sollte, andererseits erhöht sich mit jedem Gespräch die Chance für ihre Kollegen, Felicia zu finden.
Der Mann im Fernsehen warnt die Zuschauer davor, zu viel Glitzer zu benutzen, da dies die Sprungfähigkeit der Bälle beeinträchtige.
Saga geht langsam zu Jurek. Er verlässt das Laufband und fordert sie mit einer Geste auf,
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