Der Sandmann: Kriminalroman (German Edition)
Unterhaltung in den Computer ein. Nathan Pollock hat an den Rand seines Notizbuchs zehn Blumen gemalt und die Worte »Hochspannungsleitungen, Radlader und roter Lehm« hineingeschrieben.
Joona steht mit geschlossenen Augen vor dem Lautsprecher und spürt, dass ihm ein kalter Schauer über den Rücken läuft, als Saga über ihren Großvater spricht. Sie darf Jurek Walter unter gar keinen Umständen einen Einblick in ihre Gedanken gewähren, denkt er. Susanne Hjälms Gesicht flackert vor seinem inneren Auge vorüber. Ihr schmutziges Gesicht und ihr völlig verängstigter Blick in dem Keller.
»Warum kannst du nicht dorthin fahren, wohin du fahren möchtest?«, hört er Jurek Walter fragen.
»Das Haus gehört jetzt meinem Vater«, antwortet Saga Bauer.
»Und den hast du schon lange nicht mehr getroffen?«
»Weil ich ihn nicht sehen will«, sagt sie.
»Wenn er lebt, wartet er sicher darauf, dass du ihm eine neue Chance gibst«, sagt Jurek Walter.
»Nein«, entgegnet sie.
»Es kommt natürlich darauf an, was passiert ist, aber …«
»Ich war klein und erinnere mich nur bruchstückhaft«, erzählt sie, »aber ich weiß, dass ich ihn viele Male angerufen und ihm versprochen habe, immer lieb zu sein, wenn er nach Hause kommt … ich würde immer in meinem eigenen Bett schlafen und brav am Tisch sitzen und … Ich will nicht darüber sprechen.«
»Das kann ich verstehen«, sagt Jurek Walter, aber seine Worte gehen fast in einem Rascheln unter.
Man hört einen Pfeifton und danach das rhythmische Pochen schwerer Schritte auf dem Laufband.
120
Jurek Walter geht auf dem Laufband. Er scheint sich gut erholt zu haben. Seine Schritte sind lang und kraftvoll, sein blasses Gesicht strahlt Ruhe aus.
»Du bist enttäuscht von deinem Vater, weil er nicht nach Hause gekommen ist«, sagt er.
»Ich weiß noch, wie oft ich ihn angerufen habe … ich meine, ich brauchte ihn damals wirklich.«
»Aber was ist mit deiner Mutter … wo war sie?«
Saga zögert und denkt, dass sie jetzt ein bisschen zu viel redet, aber gleichzeitig muss sie natürlich sein Vertrauen erwidern. Es ist ein Tauschhandel, sonst wird das Gespräch bestimmt oberflächlicher. Es ist der richtige Zeitpunkt, um etwas Persönliches zu erzählen, und solange sie sich an die Wahrheit hält, hat sie nichts zu befürchten.
»Meine Mutter war krank, als ich klein war … ich erinnere mich nur an die letzte Zeit«, antwortet Saga.
»Sie ist gestorben?«
»An Krebs … sie hatte einen bösartigen Gehirntumor.«
»Das tut mir leid.«
Saga erinnert sich an die Tränen, die ihr in den Mund liefen, erinnert sich an den Geruch des Telefons, das warme Ohr, das Licht, das durch die staubigen Fenster in der Küche fiel.
Vielleicht wird sie von den Medikamenten, ihren Nerven oder auch nur von Jurek Walters unerbittlichem Blick beeinflusst. Jedenfalls hat sie seit vielen Jahren nicht mehr über diese Dinge gesprochen. Sie weiß im Grunde nicht einmal, warum sie es jetzt tut.
»Es ging nur darum, dass mein Vater … er ertrug ihre Krankheit nicht«, flüstert sie. »Er ertrug es nicht, zu Hause zu sein.«
»Ich verstehe, dass du wütend bist.«
»Ich war viel zu klein, um mich um meine Mutter zu kümmern … ich habe versucht, ihr beim Einnehmen der Medikamente zu helfen, versucht, sie zu trösten … abends hatte sie immer starke Kopfschmerzen, lag nur in ihrem dunklen Schlafzimmer und weinte.«
Bernie Larsson kriecht zu ihr und versucht zwischen Sagas Beinen zu schnüffeln. Sie stößt ihn weg, und er rollt in die Plastikpalme.
»Ich will auch abhauen«, sagt er. »Ich komme mit, ich kann zubeißen und …«
»Halt’s Maul«, unterbricht sie ihn.
Jurek Walter dreht sich um und sieht Bernie Larsson an, der grinsend dasitzt und zu Saga hochschielt.
»Muss ich dich umbringen?«, fragt Jurek ihn.
»Entschuldigung, Entschuldigung«, flüstert Bernie und steht auf.
Jurek Walter geht weiter auf dem Laufband, Bernie setzt sich auf die Couch und sieht fern.
»Ich werde deine Hilfe benötigen«, sagt Jurek.
Saga antwortet nicht, denkt aber, dass es gelogen wäre, wenn sie sagen würde, sie wolle ausbrechen. Sie will in der Klinik bleiben, bis Felicia gefunden worden ist.
»Ich glaube, dass der Mensch mehr an seine Familie gebunden ist als an irgendein anderes Tier«, fährt Jurek fort. »Wir geben alles, um die Trennung von ihr aufzuschieben.«
»Mag sein.«
»Du warst nur ein kleines Kind, hast dich aber um deine Mutter
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