Der Sandmann: Kriminalroman (German Edition)
es zu benutzen.
Sie dankt ihm, steigt hinauf und marschiert los. Jurek steht daneben und beobachtet sie. Ihre Beine sind immer noch schwer, und die Gelenke schmerzen. Sie versucht, das Tempo zu erhöhen, atmet aber bereits angestrengt.
»Hast du deine Injektion Haldol bekommen?«, fragt Jurek.
»Gleich am ersten Tag«, antwortet sie.
»Von dem Arzt?«
»Ja.«
»Ist er hereingekommen und hat deine Hose heruntergezogen?«
»Erst habe ich Stesolid bekommen«, antwortet sie leise.
»War er zudringlich?«
Sie zuckt mit den Schultern.
»Ist er öfter bei dir gewesen?«
Bernie Larsson betritt den Aufenthaltsraum und kommt sofort zum Laufband. Seine gebrochene Nase ist mit weißem Tape fixiert worden, und ein Auge ist zugeschwollen. Er bleibt vor Saga stehen, sieht sie an und hustet leise.
»Ich bin jetzt dein Sklave … verdammt … Ich bin hier und folge dir bis in alle Ewigkeit … bis der Tod uns scheidet …«
Er streicht Schweiß von seiner Oberlippe und wankt.
»Ich gehorche jedem kleinen …«
»Setz dich auf die Couch«, unterbricht Saga ihn, ohne ihn anzusehen.
Er rülpst und schluckt mehrmals.
»Ich liege auf dem Boden und wärme deine Füße … Ich bin dein Hund«, sagt er und fällt seufzend auf die Knie. »Sag es mir. Was soll ich tun?«
»Setz dich auf die Couch«, wiederholt Saga.
Sie geht mit schweren Schritten auf dem Laufband. Die Blätter der Palme wippen auf und ab. Bernie Larsson kriecht näher heran, legt den Kopf schief und blickt zu ihr auf.
»Egal, was es ist, ich werde gehorchen«, sagt er. »Wenn du Schweiß zwischen den Brüsten hast, kann ich ihn abwischen und …«
»Setz dich auf die Couch«, sagt Jurek Walter neutral.
Bernie Larsson kriecht auf der Stelle fort und legt sich vor der Couch auf den Boden. Saga muss die Geschwindigkeit des Laufbands ein wenig drosseln. Sie vermeidet jeden Blick auf das wippende Palmblatt und jeden Gedanken an das Mikrofon mit dem Sender.
Jurek Walter steht neben ihr und betrachtet sie, wischt sich den Mund ab und streicht sich mit der Hand durch seine kurzen, metallisch grauen Haare.
»Wir könnten die Anstalt gemeinsam verlassen«, sagt er ruhig.
»Ich weiß aber gar nicht, ob ich das will«, antwortet sie ehrlich.
»Warum nicht?«
»Ich habe da draußen eigentlich nichts mehr.«
»Nichts mehr?«, wiederholt er leise. »Man kann ohnehin nicht zurückkehren … zu nichts, aber es gibt bessere Orte als diesen hier.«
»Vielleicht aber auch schlimmere.«
Er scheint aufrichtig erstaunt zu sein und schaut nur seufzend fort.
»Was hast du gesagt?«, fragt sie.
»Ich habe nur geseufzt, weil ich gedacht habe, dass ich mich tatsächlich an einen schlimmeren Ort erinnere«, sagt er und sieht sie verträumt an. »Hochspannungsleitungen surrten … die Straßen waren von großen Radladern kaputtgefahren worden … und ihre Spuren füllten sich mit rotem, lehmigem Wasser, das mir bis zur Taille ging … aber ich konnte immer noch den Mund öffnen und atmen.«
»Was willst du mir damit sagen?«
»Dass die schlimmeren Orte den besseren manchmal vorzuziehen sind …«
»Du denkst an die Kindheit?«
»Das tue ich wohl«, flüstert er.
Saga schaltet das Laufband aus, lehnt sich vor und stützt sich auf die Griffe. Ihr Kopf ist so rot angelaufen, als wäre sie zehn Kilometer gelaufen. Sie weiß, dass sie das Gespräch weiterführen sollte, damit er mehr erzählt, darf aber auch nicht übereifrig wirken.
»Aber heute … Hast du ein Versteck, oder willst du ein neues finden?«, fragt sie, ohne ihn anzusehen.
Die Frage war viel zu direkt, sie spürt es sofort und zwingt sich, aufzuschauen und seinem Blick zu begegnen.
»Ich kann dir eine ganze Stadt geben, wenn du willst«, antwortet er ernst.
»Wo?«
»Wähle selbst.«
Saga schüttelt lächelnd den Kopf, erinnert sich aber plötzlich an einen Ort, an den sie viele Jahre nicht mehr gedacht hat.
»Wenn ich an andere Orte denke … dann denke ich nur an das Haus meines Großvaters«, sagt sie. »Ich hatte da eine Schaukel an einem Baum … ich weiß nicht, aber ich schaukele immer noch gern.«
»Kannst du nicht hinfahren?«
»Das geht nicht«, antwortet sie und steigt vom Band.
119
In der Dachgeschosswohnung in der Rörstrandsgatan 19 lauscht die geheime Ermittlungsgruppe Athena Promachos dem Gespräch Jurek Walters und Saga Bauers.
Johan Jönson sitzt in einem grauen Trainingsanzug vor dem Computer. Corinne sitzt am Schreibtisch und gibt den Wortlaut der gesamten
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