Der Sandmann: Kriminalroman (German Edition)
Bürgersteig hinab und bleiben vor dem Hauseingang stehen.
»Du weißt ja, dass ich Roseanna Kohler kannte«, sagt Carlos und seufzt. »Als ihre Kinder verschwanden, tat ich alles, was in meiner Macht stand, aber es war nicht genug …«
»Nein.«
»Ich erzählte ihr von Jurek Walter. Sie wollte alles wissen, wollte sich Fotos von ihm ansehen und …«
»Aber Reidar wusste davon nichts.«
»Nein, sie meinte, es sei besser so. Ich weiß nicht … Roseanna zog nach Paris, rief mich ständig an, trank viel zu viel … Es ging mir nicht um meine Karriere, aber ich fand es peinlich, für sie und auch für mich …«
Carlos verstummt und streicht sich mit der Hand über den Nacken.
»Was?«, fragt Joona.
»Roseanna rief mich eines Nachts aus Paris an und schrie, sie habe Jurek Walter vor dem Hotel gesehen, aber ich schenkte ihren Worten keinen Glauben … später in jener Nacht brachte sie sich um …«
Carlos gibt Joona die Autoschlüssel.
»Schlaf jetzt«, sagt er. »Ich gehe die Straße hinunter und nehme mir am Norra bantorget ein Taxi.«
155
Anders Rönn hatte das Gefühl, dass My ihn ein wenig fragend angesehen hat, als er meinte, sie könne diese Nacht wieder im Übernachtungszimmer schlafen.
»Ich finde, es gibt keinen Grund dafür, dass wir beide wach bleiben«, sagte er scheinbar gleichgültig. »Ich habe keine Wahl, ich muss noch zwei Stunden arbeiten, um alles fertigzumachen. Danach könnt ihr euch die Zeit so einteilen, wie ihr wollt.«
Jetzt ist er allein. Er geht durch den Flur, bleibt vor der Tür zum Übernachtungszimmer stehen und horcht.
Es herrscht Stille.
Er begibt sich zur Überwachungszentrale und setzt sich vor den Monitor. Endlich ist es Zeit, in den Zimmern das Licht zu löschen. Auf dem großen Bildschirm sieht man die neun Einzelbilder. Jurek Walter hat sich früh hingelegt. Anders sieht das hagere Profil, das sich im Bett abzeichnet. Er liegt erschreckend regungslos, so dass es fast aussieht, als würde er nicht atmen. Saga sitzt auf ihrem Bett. Ihr Stuhl liegt umgekippt auf dem Boden. Er lehnt sich zum Bildschirm vor und betrachtet sie. Sein Blick folgt der Rundung des rasierten Schädels, dem schlanken Nacken, den Schultern und den Muskeln der dünnen Arme.
Es gibt nichts, was ihn abhält.
Er begreift nicht, warum er letzte Nacht solche Angst bekommen hat, als er bei ihr war. Es saß niemand vor den Monitoren, und selbst wenn jemand in der Überwachungszentrale gesessen hätte, wäre das Zimmer so dunkel gewesen, dass keiner etwas gesehen hätte.
Er hätte zehn Mal mit ihr schlafen können, er hätte alles Mögliche tun können.
Anders Rönn atmet tief durch, steckt seine Zugangskarte in das Lesegerät des Computers und loggt sich ein. Anschließend öffnet er das Verwaltungsprogramm der Stationen, markiert die Patientenzone und klickt auf Nachtbeleuchtung.
Daraufhin sind alle drei Patientenzimmer schwarz.
Es dauert nur wenige Sekunden, bis Saga die Lampe an ihrem Bett einschaltet und den Blick der Kamera zuwendet.
Es ist, als sähe sie ihn an, weil sie weiß, dass er sie ansieht.
Anders Rönn wirft einen Blick auf die zwei Wärter am Eingang, die sich unterhalten. Der Mann sagt etwas, was die große Frau zum Lachen bringt – lächelnd macht er pantomimisch eine Geste, als spielte er Geige.
Anders steht auf und betrachtet Saga.
Er holt eine Tablette aus dem Medikamentenschrank und legt sie in einen Plastikbecher, geht zur Sicherheitstür und zieht seine Karte durch das Lesegerät.
Als er zu ihrer Tür kommt, beginnt sein Herz zu pochen. Durch das dicke Glas sieht er sie auf dem Bett sitzen. Wenn sie den Blick auf die Kamera richtet, sieht sie aus wie eine kleine Meerjungfrau.
Anders öffnet die Luke und sieht, dass sie in seine Richtung schaut. Sie steht auf und geht zögernd zu ihm.
»Haben Sie letzte Nacht gut geschlafen?«, fragt er freundlich.
Als sie die Hand durch die Luke streckt, hält er ihre Finger einen Moment fest, ehe er ihr den Plastikbecher gibt.
Er schließt die Luke und sieht sie durch das Zimmer zum Bett zurückkehren. Sie steckt die Tablette in den Mund, füllt den Becher mit Wasser und spült sie herunter, schaltet die Lampe an ihrem Bett aus und legt sich hin.
Anders Rönn geht die Gurte holen, die zu dem Bett gehören, zieht die dünne Plastikhülle ab. Dann stellt er sich vor die Stahltür und beobachtet sie durch das Panzerglas.
156
Im Schutz der Dunkelheit versteckt Saga die Tablette im Schuh und legt sich ins Bett. Sie weiß
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