Der Sandmann: Kriminalroman (German Edition)
unergründlichen Wege …«
Die hellen Taschenlampen der Polizisten kreisen rund um die alten Unterkünfte.
»Ich schrieb meinem Bruder und erzählte ihm von dir, erfuhr aber nie, ob er wollte, dass ich dir noch jemanden wegnehme«, fährt Jureks Bruder leise fort.
Joona bleibt stehen, spürt die Schwere der Waffe in seinem müden Arm und sieht in die hellen Augen des Sandmanns.
»Ich war mir sicher, dass du dich nach dem Autounfall erhängen würdest, aber du lebst«, sagt der hagere Mann. »Ich habe gewartet, aber du hast weitergelebt …«
Er verstummt, lächelt plötzlich, blickt auf und sagt:
»Du lebst, weil deine Familie nicht wirklich tot ist.«
Joona hebt schweigend die Pistole, richtet die Mündung auf das Herz des Sandmanns und feuert drei Schüsse ab. Die Kugeln durchschlagen den schlanken Körper, und schwarzes Blut spritzt aus den Austrittslöchern zwischen den Schulterblättern.
Das Echo der drei Schüsse hallt durch die Kiesgrube.
Jurek Walters Zwillingsbruder fällt nach hinten.
Sein Krückstock bleibt im Schnee stecken.
Der Sandmann ist tot, noch ehe er auf der Erde aufschlägt. Der hagere Körper rollt den Hang hinunter, bis er von einem alten Herd gestoppt wird. Kleine Schneeflocken tanzen aus dem schwarzen Himmel herab.
154
Joona sitzt mit geschlossenen Augen auf dem Rücksitz seines Autos. Sein Chef Carlos Eliasson fährt ihn nach Stockholm und spricht mit ihm wie ein fürsorglicher Vater mit seinem Kind.
»Sie wird durchkommen … ich habe mit einem Arzt gesprochen … Felicias Zustand ist ernst, aber nicht kritisch … Sie versprechen natürlich nichts, aber trotzdem, es ist fantastisch … ich glaube, dass sie durchkommt, ich …«
»Weiß Reidar es schon?«, fragt Joona, ohne die Augen zu öffnen.
»Darum kümmert sich das Krankenhaus, du wirst jetzt einfach nach Hause fahren und dich ausruhen und …«
»Ich habe versucht, dich zu erreichen.«
»Ja, ich weiß, ich habe gesehen, dass ich eine Menge Anrufe verpasst habe … Du hast vielleicht schon gehört, dass Jurek Walter Saga gegenüber eine alte Zementfabrik erwähnt hat. Davon hat es nie viele gegeben, aber früher lag eine im Industriegebiet Albano. Als wir dort in den Wald gingen, haben die Hunde überall Gräber markiert. Wir durchsuchen das gesamte Gelände.«
»Aber ihr habt niemanden gefunden, der noch lebt?«
»Bis jetzt noch nicht, aber wir werden die ganze Nacht weitersuchen.«
»Ich glaube, dass ihr nur Gräber finden werdet …«
Carlos fährt geradezu vorbildlich vorsichtig, und im Wageninneren ist es mittlerweile so warm geworden, dass Joona seinen Mantel aufknöpfen muss.
»Der Albtraum ist vorbei, Joona … Morgen früh wird entschieden, dass Saga erneut verlegt wird, und anschließend können wir sie abholen und einfach alle Spuren in den Archiven löschen.«
Sie fahren in die Stadt, und das Licht rund um die Straßenlaternen ist wie Nebel aus Schnee. Neben ihnen steht ein Bus und wartet darauf, dass die Ampel auf Grün schaltet. Müde Menschen blicken durch beschlagene Busfenster hinaus.
»Ich habe mit Anja gesprochen«, erzählt Carlos. »Sie konnte einfach nicht bis morgen warten … sie hat die Akten des Jugendamts zu Jurek und seinem Bruder im kommunalen Archiv gefunden und die Beschlüsse der Ausländerkommission im Landesarchiv in Marieberg aufgetrieben.«
»Anja ist wirklich gut«, sagt Joona zu sich selbst.
»Jureks Vater durfte sich als Gastarbeiter in Schweden aufhalten«, berichtet Carlos. »Aber die beiden Jungen hielten sich ohne Genehmigung der Behörden bei ihm auf, und als ihre Anwesenheit aufflog, schaltete man das Jugendamt ein, und die Kinder wurden in staatliche Obhut genommen. Das Verfahren wurde rasch vorangetrieben, und da der eine Junge krank war, behandelte man seinen Fall zuerst …«
»Sie landeten an verschiedenen Orten.«
»Die Ausländerkommission schickte den gesunden Jungen nach Kasachstan zurück, und als neue Sachbearbeiter über den Fall des anderen Jungen entscheiden sollten, wurde er nach Russland geschickt, das Kinderheim hieß Internat 67.«
»Ich verstehe«, flüstert Joona.
»Jurek Walter kam im Januar 1994 nach Schweden. Vielleicht war sein Bruder damals schon in der Kiesgrube, vielleicht auch nicht … aber ihr Vater war zu diesem Zeitpunkt jedenfalls bereits tot.«
Carlos lenkt den Wagen sanft in eine freie Parklücke in der Dalagatan, unweit von Joonas Wohnung in der Wallingatan 31. Sie steigen beide aus, gehen den verschneiten
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