Der Sandmann: Kriminalroman (German Edition)
Mikael.
»Können Sie sich noch an den Namen von jemandem erinnern?«
Der junge Mann hustet und schüttelt den Kopf.
»Alle haben nur geschrien und geweint, und die Frau mit dem Auge hat die ganze Zeit nach zwei Jungen gefragt«, sagt er mit nach innen gekehrtem Blick.
»Erinnern Sie sich an den Namen von jemandem?«
»Was?«
»Erinnern Sie sich an die Namen der …«
»Ich will nicht, ich will nicht …«
»Ich möchte Sie nicht aufregen, aber …«
»Sie sind alle verschwunden, sie sind alle einfach verschwunden«, sagt Mikael immer heftiger. »Alle sind verschwunden, alle …«
Mikaels Stimme bricht, und seine Worte sind nicht mehr zu verstehen.
Joona wiederholt, dass alles wieder gut werden wird. Mikael sieht ihm in die Augen, zittert aber so, dass er nicht sprechen kann.
»Hier sind Sie sicher«, erklärt Joona. »Ich bin Polizist und sorge dafür, dass Ihnen nichts geschieht.«
Die Ärztin Irma Goodwin betritt in Begleitung einer Schwester den Raum. Sie gehen zu dem Patienten und legen ihm behutsam die Sauerstoffmaske an. Die Schwester erläutert freundlich alles, was sie tut, während sie über den Infusionsschlauch eine angsthemmende Emulsion injiziert.
»Er muss sich jetzt ausruhen«, sagt sie anschließend zu Joona.
»Ich muss erfahren, was er gesehen hat.«
Sie legt den Kopf schief und zupft an ihrem Ringfinger.
»Eilt es sehr?«
»Nein«, antwortet Joona. »Nicht wirklich.«
»Dann kommen Sie doch bitte morgen wieder«, meint Irma Goodwin. »Ich glaube nämlich …«
Ihr Handy klingelt, und sie wechselt ein paar Worte und verlässt daraufhin hastig den Raum. Joona bleibt am Bett stehen und hört, wie sich ihre Schritte im Flur entfernen.
»Mikael, was haben Sie mit dem Auge gemeint? Sie sprachen von der Frau mit dem Auge, was meinten Sie damit?«, fragt er bedächtig.
»Es war wie … wie ein schwarzer Tropfen …«
»Die Pupille?«
»Ja«, flüstert Mikael und schließt die Augen.
Joona betrachtet den jungen Mann im Bett und spürt seinen eigenen Puls in den Schläfen pochen. Als er seine nächste Frage stellt, ist seine Stimme rau wie Metall:
»Hieß sie Rebecka?«
34
Als das Beruhigungsmittel seine Blutbahn erreicht, weint Mikael. Sein Körper entspannt sich, und seine Schluchzer werden immer müder und verstummen nur Sekunden, bevor er sanft einschläft, ganz.
Joona fühlt sich innerlich seltsam leer, als er das Krankenzimmer verlässt und sein Handy aus der Tasche zieht. Er bleibt stehen, atmet tief durch und ruft Åhlén an, der die gerichtsmedizinischen Obduktionen der Leichen durchgeführt hat, die im Lill Jans-Wald gefunden wurden.
»Nils Åhlén«, meldet er sich.
»Sitzt du gerade am Computer?«
»Joona Linna, wie schön von dir zu hören«, sagt Åhlén mit seiner näselnden Stimme. »Ich habe hier vor dem Bildschirm gerade die Augen zugemacht und mir vorgestellt, ich hätte mir ein Gesichtssolarium gekauft.«
»Ein teurer Tagtraum.«
»Spare in der Zeit, so hast du in der Not.«
»Würdest du für mich bitte in ein paar alte Obduktionsberichte schauen?«
»Rede mit Frippe, er wird dir helfen.«
»Das geht nicht.«
»Er weiß genauso viel wie …«
»Es geht um Jurek Walter«, unterbricht Joona ihn.
»Ich habe dir gesagt, dass ich nie mehr darüber sprechen will«, sagt Åhlén gefasst.
»Eines seiner Opfer ist lebend zurückgekehrt.«
»Sag so etwas nicht.«
»Mikael Kohler-Frost … Er leidet an der Legionärskrankheit, wird es aber höchstwahrscheinlich schaffen.«
»Welche Berichte interessieren dich?«, fragt Åhlén.
»Der Mann in der Tonne litt doch an der Legionärskrankheit«, antwortet Joona, »aber gab es auch bei dem Jungen, der bei ihm lag, Spuren von Legionellen?«
»Warum willst du das wissen?«
»Wenn es einen Zusammenhang gibt, könnte man eine Liste der Orte zusammenstellen, an denen es diese Bakterien gibt. Und dann …«
»Wir reden hier von Millionen denkbaren Orten«, unterbricht Åhlén ihn.
»Okay …«
»Joona, selbst wenn in den anderen Berichten Legionellen auftauchen, ist das noch lange kein Beweis dafür, dass Mikael zu Jurek Walters Opfern gehört.«
»Heißt das, es gab Legionellen in …«
»Ja, ich habe damals Antikörper gegen die Bakterien im Blut des Jungen gefunden, wahrscheinlich hatte er das Pontiacfieber«, sagt Åhlén und seufzt. »Ich weiß, dass du Recht behalten willst, Joona, aber nichts von dem, was du sagst, reicht aus, um …«
»Mikael Kohler-Frost sagt, dass er Rebecka begegnet
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