Der Sandmann: Kriminalroman (German Edition)
seine Familie für immer verlieren würde. Er hatte sich ausgemalt, dass er eine Zeit lang darauf würde verzichten müssen, sie zu treffen, sie zu sehen, sie zu berühren. Ihm war bewusst gewesen, dass es Jahre dauern konnte, aber er war immer überzeugt gewesen, dass er Jurek Walters Schatten finden und ergreifen würde. Er hatte damit gerechnet, die Verbrechen der beiden irgendwann aufzuklären, ihre Untaten ans Licht zu holen und in aller Ruhe jedes Detail zu betrachten, aber nach zehn Jahren war er noch nicht weiter als nach zehn Tagen. Nichts brachte ihn weiter. Der einzige konkrete Beweis für die Existenz des Komplizen war die Tatsache, dass Jurek Walters Urteil über Samuel vollstreckt worden war.
Offiziell wurde keine Verbindung zwischen dem Verschwinden von Samuels Familie und Jurek Walter hergestellt. Man hielt es für einen zufälligen Schicksalsschlag. Schon bald glaubte nur noch Joona, dass Jurek Walters Mittäter die drei entführt hatte.
Joona war fest davon überzeugt, dass er Recht hatte, musste mit der Zeit jedoch das Remis akzeptieren. Sie würden den Komplizen zwar nicht finden, aber seine Familie lebte noch.
Er hörte auf, über den Fall zu sprechen, aber da er davon ausgehen musste, dass er eventuell überwacht wurde, war er im Grunde zu einem Leben in Einsamkeit verdammt.
Die Jahre vergingen, und der erfundene Tod ähnelte immer mehr einem richtigen Tod.
Er hatte seine Frau und seine Tochter tatsächlich verloren.
Joona parkt hinter einem Taxi vor dem Haupteingang des Söder-Krankenhauses, steigt aus, geht durch den leichten Schneefall und tritt durch die rotierende Glastür.
32
Mikael Kohler-Frost ist von seinem Zimmer in der Intensivstation auf Station 66 für akute und chronische Infektionskrankheiten verlegt worden.
Eine Ärztin mit einem müden, aber sympathischen Gesicht stellt sich als Irma Goodwin vor und begleitet Joona Linna über den glänzenden Kunststoffboden. Das Licht der Neonröhren blitzt im Glas einer gerahmten Lithographie auf.
»Sein Allgemeinzustand war sehr schlecht«, erläutert sie im Gehen. »Er ist unterernährt und hat eine Lungenentzündung. Das Labor hat in seinem Urin Antikörper gegen Legionellen festgestellt und …«
»Die Legionärskrankheit?«
Joona bleibt im Krankenhausflur stehen. Die Ärztin sieht, dass seine Augen schimmernd grau geworden sind, fast wie gebürstetes Silber, und beeilt sich, ihm zu versichern, dass die Krankheit nicht ansteckend ist.
»Ihr Vorkommen ist an bestimmte Orte gebunden, die …«
»Ich weiß«, fällt Joona ihr ins Wort und geht weiter.
Er erinnert sich, dass der Mann, der tot in der Plastiktonne gefunden wurde, auch an der Legionärskrankheit gelitten hatte. Um an ihr zu erkranken, muss man sich an einem Ort mit infiziertem Wasser aufhalten. Es ist ausgesprochen unwahrscheinlich, sich in Schweden zu infizieren. Die Bakterien der Gattung Legionella wachsen in Teichen, Wassertanks und Rohrleitungen mit zu hohen Wassertemperaturen.
»Aber er wird wieder gesund?«, fragt Joona.
»Ich denke schon, ich habe unverzüglich Makrolidantibiotika eingesetzt«, antwortet sie und versucht, mit dem großgewachsenen Kommissar Schritt zu halten.
»Und das hilft?«
»Es dauert ein paar Tage – er hat immer noch hohes Fieber, und es besteht die Gefahr von septischen Embolien«, sagt sie, öffnet eine Tür, macht eine einladende Geste und begleitet ihn in das Zimmer des Patienten.
Tageslicht fällt durch den Infusionsbeutel am Ständer und lässt ihn leuchten. Ein schlanker und sehr blasser Mann liegt mit geschlossenen Augen im Bett und murmelt manisch:
»Nein, nein, nein … nein, nein, nein, nein …«
Sein Kinn zittert, und die Schweißperlen auf seiner Stirn sammeln sich zu Rinnsalen. An seinem Bett sitzt eine Krankenschwester, hält seine linke Hand und zupft sorgsam kleine Glassplitter aus einer Wunde.
»Hat er etwas gesagt?«, will Joona wissen.
»Er hat fantasiert, aber es ist nicht ganz leicht zu verstehen, was er sagen will«, antwortet die Schwester und bedeckt die Wunde in der Hand mit einer Kompresse.
Sie verlässt den Raum, und Joona nähert sich behutsam dem Patienten. Er betrachtet die abgemagerten Gesichtszüge und hat keine Mühe, in ihnen das Kindergesicht wiederzuerkennen, das er so oft auf Fotos studiert hat. Der niedliche Mund mit der vorgestülpten Oberlippe und die langen dunklen Wimpern. Joona erinnert sich an das letzte Bild von Mikael. Damals war er zehn und saß am Computer, die Haare
Weitere Kostenlose Bücher