Der Sandmann: Kriminalroman (German Edition)
ehrliche Überzeugung«, bemerkt Benny freundlich.
»Joona wollte weitersuchen«, wirft Anja leise ein.
»Das stimmt, aber irgendwann habe ich auch nicht mehr geglaubt, dass sie noch leben«, entgegnet Joona.
»Außerdem gab es nichts, dem wir noch hätten nachgehen können«, sagt Nathan Pollock. »Keine Spuren, keine Zeugen …«
Carlos ist blass geworden. Seine Hand tastet über den Hals und versucht, den obersten Knopf seines Hemds zu öffnen.
»Aber sie lebten noch«, sagt er fast flüsternd.
»Ja«, bestätigt Joona.
»Ich habe schon viel gesehen, aber das hier …«, sagt Carlos und zieht wieder an seinem Kragen. »Ich verstehe einfach nicht, was dahintersteckt. Warum zum Teufel? Ich begreife das nicht, ich …«
»Das kann man nicht verstehen«, sagt Anja beruhigend und versucht, ihn aus dem Raum zu führen. »Du musst einen Schluck Wasser trinken.«
»Warum sperrt man mehr als zehn Jahre lang zwei Kinder ein?«, fährt er mit erhobener Stimme fort. »Warum sorgt man dafür, dass sie überleben, tut aber sonst nichts, keine Erpressung, keine Gewalt, kein Missbrauch …«
Anja versucht erneut, ihn aus dem Raum zu führen, aber er wehrt sich und packt Nathan Pollocks Arm.
»Findet das Mädchen«, sagt er, »seht zu, dass ihr sie heute noch findet.«
»Ich glaube eigentlich nicht, dass …«
»Findet sie«, schneidet Carlos ihm das Wort ab und verlässt den Raum.
Anja kehrt nach kurzer Zeit zurück. Die Mitglieder der Ermittlungsgruppe unterhalten sich murmelnd und blättern in ihren Akten. Tommy Kofoed lächelt gequält in sich hinein. Bennys Mund steht offen, und er stochert mit den Zehen geistesabwesend in Magdalenas Sporttasche.
»Was ist denn los mit euch?«, fragt Anja mit strenger Stimme. »Ihr habt euren Chef gehört.«
Rasch beschließt die Gruppe, dass Magdalena und Kofoed eine Einsatztruppe organisieren und ein Team aus Kriminaltechnikern zusammenstellen sollen, während Joona die Versuche koordinieren wird, südlich des Bahnhofs Södertälje Syd ein Suchgebiet einzukreisen.
Joona betrachtet einen Ausdruck des letzten Fotos, das von Felicia gemacht wurde. Er weiß nicht, wie oft er es sich schon angesehen hat. Ihre Augen sind groß und dunkel, ihre langen schwarzen Haare liegen in einem filzigen Zopf auf einer Schulter. Sie hält einen Reithelm in der Hand und lächelt pfiffig in die Kamera.
»Mikael Kohler-Frost sagt, er sei kurz vor Einbruch der Dunkelheit losgegangen«, sagt Joona, den Blick auf eine detaillierte Karte an der Wand gerichtet. »Wann genau ist der Notruf des Lokomotivführers eingegangen?«
Benny sucht die Information in seinem Computer.
»Um 03.22«, antwortet er.
»Gefunden haben sie Mikael hier«, fährt Joona fort und markiert die Nordseite der Igelsta-Brücke. »Es ist schwer vorstellbar, dass er verletzt und krank mehr als fünf Kilometer in der Stunde zurücklegen konnte.«
Mit einem Lineal misst Anja die maximale Wegstrecke in südliche Richtung ab und zieht anschließend mit einem großen Zirkel einen Kreis. Zwanzig Minuten später haben sie fünf Baustellen gefunden und markiert, auf die Mikaels Beschreibung zutreffen könnte.
Benny ist immer noch dabei, mühsam Informationen in den Computer einzugeben, der sich den Bildschirm mit einem zwei Meter großen Plasmamonitor an der Wand teilt, auf dem man jetzt eine Hybridform aus Karte und Satellitenfoto sieht. Anja sitzt mit zwei Telefonen neben ihm und holt weitere Informationen ein, während Nathan und Joona über die verschiedenen Baustellen diskutieren.
Fünf rote Kreise auf dem großen Bildschirm markieren die Baustellen im Suchsektor. Drei von ihnen befinden sich innerhalb dichter Bebauung.
Joona steht vor der Karte, folgt den denkbaren Eisenbahnstrecken und zeigt auf eine der beiden anderen Markierungen im Wald nahe Älgberget.
»Das ist sie«, sagt er.
Benny klickt den Kreis an und ermittelt die Koordinaten, während Anja ihnen die kurze Information vorliest, laut der das Bauunternehmen NCC dort ein neues Servicegebäude für Facebook errichtet, wobei die Bauarbeiten allerdings seit einem Monat wegen eines Konflikts am Umweltgerichtshof ruhen.
»Soll ich die Baupläne der Gebäude besorgen?«, erkundigt sich Anja.
»Wir fahren sofort hin«, entscheidet Joona.
52
Auf dem unebenen Weg durch den Wald ist der Schnee unberührt. Eine große Fläche ist abgeholzt worden. Abfluss- und Kabelrohre sind verlegt und Straßenabläufe angelegt worden. Das 40000 Quadratmeter große
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