Der Sandmann: Kriminalroman (German Edition)
fürchtet sich nicht vor Schmerzen«, sagt Joona.
»Dann sollen wir einfach aufgeben?«
»Nein«, antwortet Joona und lehnt sich so zurück, dass der Sitz in seinem Rücken knackt.
»Aber was hast du dir dann vorgestellt?«, will Verner wissen.
»Wenn wir zu Jurek Walter gehen und mit ihm sprechen, können wir sicher sein, dass er lügt. Er wird das Gespräch lenken, und wenn er einmal herausgefunden hat, was wir von ihm wollen, wird er uns dazu bringen, mit ihm zu feilschen, bis das Ganze schließlich damit endet, dass wir ihm etwas versprechen, was wir später bitter bereuen werden.«
Carlos senkt den Blick und kratzt sich gereizt in der Kniekehle.
»Was bleibt uns dann noch?«, fragt Verner leise.
»Ich weiß nicht, ob es machbar ist«, sagt Joona, »aber wenn wir einen Agenten als Patienten in derselben gerichtspsychiatrischen Abteilung platzieren könnten, der …«
»Ich will nichts mehr hören«, unterbricht Carlos ihn.
»Es muss jemand sein, der so überzeugend ist, dass Jurek Walter sich ihm von sich aus nähert«, fährt Joona fort.
»Oh, verdammt«, murmelt Verner.
»Ein Patient«, flüstert Carlos.
»Ich glaube nämlich nicht, dass es schon reichen würde, wenn es jemand wäre, für den er Verwendung hat, den er ausnutzen kann«, sagt Joona.
»Was willst du damit sagen?«
»Wir müssen einen Agenten finden, der so außergewöhnlich ist, dass Jurek Walter tatsächlich neugierig wird.«
54
Der Sandsack gibt einen schmatzenden Laut von sich, und die Kette rasselt. Saga Bauer bewegt sich locker zur Seite, folgt der Bewegung des Sandsacks mit dem Körper und schlägt erneut zu. Es klatscht zwei Mal, und ihre Schläge hallen in der leeren Boxhalle wider.
Sie trainiert eine Kombination aus zwei schnellen linken Haken, einem hoch und einem tief angesetzten, denen ein harter rechter Haken folgt.
Der schwarze Sandsack schaukelt, es knirscht in seiner Verankerung. Der Schatten huscht über Sagas Gesicht, und sie schlägt wieder zu. Drei schnelle Schläge. Sie lässt die Schultern rollen, weicht zurück, tanzt um den Sack herum und schlägt zu. Ihre langen blonden Haare werden durch den schnellen Hüftschwung zur Seite geworfen und schwingen vor ihr Gesicht.
Wenn Saga trainiert, verliert sie jedes Zeitgefühl, und jeder Gedanke wird aus ihrem Kopf verdrängt. Seit zwei Stunden ist sie ganz alleine in dem Raum. Die letzten verließen den Club, als sie Seil sprang. Die Lampen über dem Boxring sind ausgeschaltet, aber aus dem Eingangsbereich fällt das weiße Licht eines Getränkeautomaten herein. Hinter den Fenstern wirbelt Schnee vor der Leuchtreklame einer Reinigung auf den Bürgersteig herab.
Aus den Augenwinkeln nimmt Saga wahr, dass auf der Straße vor dem Boxclub ein Auto hält, aber sie macht einfach mit der gleichen Kombination von Schlägen weiter und versucht, noch etwas mehr Kraft in sie hineinzulegen. Schweißtropfen spritzen vor einer Boxbirne, die sich aus ihrer Halterung gelöst hat, auf den Boden.
Stefan taucht im Eingang auf. Er stampft Schnee von den Schuhen und bleibt kurz schweigend stehen. Sein Mantel steht offen, so dass man den hellen Anzug und das weiße Hemd darunter sieht.
Sie schlägt weiter zu und sieht, dass er seine Schuhe auszieht und zu ihr hereinkommt.
Man hört nur das Geräusch ihrer Schläge gegen den Sack und das Klirren der Kette.
Saga will weitertrainieren, sie hat noch keine Lust, ihre Konzentration aufzugeben. Sie senkt die Stirn und schlägt in einem gleichmäßigen Rhythmus ihre Schlagkombination, obwohl Stefan sich hinter den Sack stellt.
»Härter«, sagt er und hält dagegen.
Sie schlägt mit der Rechten eine Gerade, die so hart ist, dass ihre Wucht ihn zwingt, einen Schritt nach hinten zu machen. Sie kann sich ein Lachen nicht verkneifen, und noch ehe er das Gleichgewicht wiedergewonnen hat, schlägt sie noch einmal zu.
»Halte dagegen«, sagt sie mit einem Anflug von Ungeduld in der Stimme.
»Wir müssen jetzt los.«
Ihr Gesicht ist verschlossen und erhitzt, als sie eine harte Kombination schlägt. Es passiert ihr so leicht, dass sie wütend wird. Die Wut führt dazu, dass sie sich schwach fühlt, lässt Saga aber auch dann noch weiterkämpfen und zuschlagen, wenn andere aufgeben.
Die harten Schläge lassen den Sack erzittern und die Kette klirren. Sie bremst sich, obwohl sie so noch lange weitermachen könnte.
Heftig atmend trippelt sie ein paar Schritte rückwärts. Der Sack schaukelt weiter. Aus der Verankerung in der Decke löst sich
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