Der Sandmann: Kriminalroman (German Edition)
schwachen Druck auf der Brust.
»Ich habe gehört, dass Mikael aus dem Krankenhaus entlassen wurde«, sagt der Kommissar.
»Aber was ist mit Felicia, ich muss wissen … sie ist, sie ist so …«
»Ich weiß, Reidar«, sagt Joona Linna sanft.
»Sie tun, was Sie können«, flüstert Reidar und merkt, dass er sich hinsetzen muss.
Er hört, dass ihn der Kommissar etwas fragt, bricht das Gespräch jedoch mitten im Satz einfach ab.
95
Reidar schluckt immer wieder, stützt sich an der Wand ab, spürt die Tapete unter seiner Hand rascheln und sieht, dass auf dem staubigen Fuß der Stehlampe ein paar tote Fliegen liegen.
Mikael hat ihm erzählt, Felicia habe nicht geglaubt, dass er nach ihr suchen würde, sie sei sicher gewesen, dass es für ihn keine Rolle spiele, ob sie verschwunden sei oder nicht.
Er wusste, dass er ein ungerechter Vater war, aber es gelang ihm trotzdem nicht, sich anders zu verhalten.
Es ging nicht darum, dass er ein Kind mehr liebte als das andere, sondern um …
Der Druck auf seine Brust wird stärker.
Reidar schaut zum Flur hinüber, der zum Eingang führt. Dort hat er seinen Mantel mit dem kleinen Fläschchen Nitroglyzerin-Spray aufgehängt.
Er versucht, ruhig zu atmen, geht ein paar Schritte, bleibt stehen und denkt, dass er sich zwingen wird, sich der Erinnerung zu stellen und sich von seiner Schuld überwältigen zu lassen.
Felicia hatte im Januar ihren achten Geburtstag gefeiert. Im März hatte es getaut, aber es sollte bald wieder kälter werden.
Mikael war immer so klug und dachte mit, sah einen mit aufmerksamen Augen an und tat, was von ihm erwartet wurde.
Felicia war anders.
Reidar hatte damals viel um die Ohren, er schrieb von morgens bis abends, beantwortete Briefe von Lesern, wurde interviewt, fotografiert und reiste in andere Länder, wenn dort Übersetzungen seiner Werke erschienen. Die Zeit reichte hinten und vorne nicht, und deshalb hasste er es, wenn ihn jemand zum Warten zwang.
Felicia war immer zu spät.
Und an jenem Tag, an dem das Schreckliche geschah, jenem Tag, an dem die Sterne in einer fürchterlichen Konstellation am Himmel standen, an dem Gott Reidar den Rücken zukehrte, war der Morgen natürlich ein ganz normaler Morgen, und die Sonne schien.
Die Schule begann für beide Kinder früh. Da Felicia immer langsam und schlampig war, hatte Roseanna ihr schon vorsorglich Kleider herausgelegt, aber es war Reidars Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Kinder rechtzeitig zur Schule kamen. Roseanna war schon früh mit dem Auto nach Stockholm gefahren, um dem Berufsverkehr zuvorzukommen.
Mikael war bereits fertig, als Felicia sich endlich an den Küchentisch setzte. Reidar toastete und bestrich Brote für sie, stellte Cornflakes, Kakaopulver, ein Glas und Milch auf den Tisch. Sie saß da, las etwas auf der Rückseite des Cornflakes-Pakets, zupfte eine Ecke des Brots ab und rollte sie zu einem buttrigen Klumpen.
»Wir haben es mal wieder ein bisschen eilig«, sagte Reidar beherrscht.
Mit gesenktem Blick griff sie nach dem Kakaopulver, ohne das Glas näher an die Dose zu rücken, und verschüttete fast alles auf den Tisch. Sie beugte sich auf die Ellbogen gestützt vor und begann, mit den Fingern in dem verschütteten Pulver zu zeichnen. Reidar bat sie, den Tisch abzuwischen, aber sie reagierte nicht, sondern lutschte an dem Finger, mit dem sie das Kakaopulver auftupfte.
»Du weißt, dass wir um zehn nach acht aus dem Haus sein müssen, um pünktlich zu sein?«
»Hör auf zu motzen«, murmelte sie und stand vom Tisch auf.
»Putz dir bitte die Zähne«, ermahnte Reidar sie. »Mama hat dir schon etwas zum Anziehen rausgelegt.«
Er beschloss, nicht mit ihr zu schimpfen, weil sie ihr Glas nicht weggeräumt und den Tisch nicht abgewischt hatte.
Reidar taumelt, die Stehlampe kippt um und erlischt. Der Druck in seiner Brust ist kaum noch auszuhalten. Der Schmerz strahlt in den Arm aus, und er bekommt kaum noch Luft. Plötzlich stehen Mikael und David Sylwan vor ihm. Er versucht, ihnen zu sagen, dass sie ihn in Ruhe lassen sollen. Berzelius kommt mit seinem Mantel angerannt, und sie durchwühlen die Taschen nach dem Medikament.
Er nimmt das Fläschchen, sprüht sich Nitroglyzerin unter die Zunge und lässt es zu Boden fallen, als der Druck auf seiner Brust weicht. Wie von fern hört er sie fragen, ob sie einen Krankenwagen rufen sollen. Reidar schüttelt den Kopf und spürt, dass das Spray stärker werdende Kopfschmerzen ausgelöst hat.
»Geht jetzt essen«,
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