Der Sandner und die Ringgeister
der Einsamkeit der Kabine auszuhirnen, wen es als Nächstes zu triezen galt.
Es hat eine Weile gedauert, bis das Gesicht vom Hartinger wieder seinen normalen, milchweißen Farbton angenommen hat. Selbstverständlich hätten sie mit dem Wagen, ganz brisant, vor dem Hotel vorfahren können, quasi schnelle Einsatztruppe. Das Atmosphärische ist halt die Marotte vom Sandner, und wieder ist es ums Gespür für die Umgebung gegangen.
Zwei Minuten mitten durchs Bahnhofsbiotop, dann stehen sie vor dem Hotel. Die runtergekommene Fassade gibt Auskunft darüber, dass »Nachtgoul« ein noch ausbaufähiges Bandprojekt sein muss. »30 € one Night«, liest er auf einem Schild, das im Fenster neben der Eingangstür prangt. Hauptsaison, Wiesnzeit.
Der erste Eindruck ist immer gravierend, selten kriegt man einen zweiten auf dem Silbertablett. Und dem Eindruck wird erst Leben durch Kontraste eingehaucht.
Der Sandner ist im Laufe der Zeit zum Kontrast-Fetischisten geworden. Er kann das Normale annähernd ausblenden, wobei sich das praktisch im Minutentakt weiter ausdehnt, wie eine Grippeepidemie. Aber das wäre ein philosophischer oder soziologischer Diskurs, und dafür ist keine Zeit, letztlich geht’s um einen Mord.
Also, der Kontrast – das beginnt bereits bei einer ordentlichen Beschreibung. »Der Mann mit dem Schlachterbeil trug einen Trachtenjanker, Herr Kommissar.« So viel zur rudimentären Form. Aber falls die Hirschhornknöpfe nur Plastikimitate gewesen wären – signifikanter Kontrast! –, wäre das Würstchen ein traditionsfremder Möchtegern oder gar Norddeutscher, und die wahren, kernigen Trachtfetischisten wären aus dem Spiel.
Wie der Sandner jetzt, den Hartinger im Schlepptau, in die Hotellobby kommt – prompt springt ihn ein Kontrast an.
Ruhig ist es, die Theke ist verwaist und übersät mit bunten Zetteln aller Art. Ein farbenfroher Prospekt von Herrenchiemsee liegt auf dem Boden – wohl einem Chinesen aus dem Tascherl gerutscht. An den Wänden Schwarz-Weiß-Bilder historischer, aufgeputzter Brauereigespanne zwecks bayrischem Feeling. Die Rahmen aus Eichenimitat. Düster ist es, der Schmierfilm an den Fensterscheiben ersetzt die Vorhänge. Ein Geruch nach Desinfektionsmittel und Zigarren.
Gegenüber der Rezeption stehen ein abgewetztes Ledersofa, zwei Sessel und ein brauner, hochglanzlackierter Tisch aus den Siebzigern auf der ehemals weinroten Auslegware. Willkürlich wirkt das, als hätte der Riese Tunichtgut kurzerhand Möbel durch den Raum gekegelt.
Der einzige Anwesende lümmelt auf dem Sofa und blättert sich unaufmerksam durch Magazine. Bei ihrem Eintreten ruckt er hoch und scheint sie zu belauern, ohne direkten Blickkontakt aufzunehmen. Aschblondes, gegeltes Haar, in das eine Sonnenbrille gepflanzt ist, als wäre sie vorgestern da vergessen geworden. Schwarzer Anzug, früher bestimmt bester Zwirn, aber die Falten und abgeschabten Stellen verraten, dass er in letzter Zeit wenig achtsam behandelt worden ist. Tiefe, bläuliche Augenringe über breiter, fleischiger Nase, vielleicht Mitte vierzig.
Personifizierter Kontrast. Fehl am Platz, vermutet der Sandner, entweder er ist der Besitzer oder ...
»Hallo«, plärrt der Hartinger durch den Raum, »wer da?«
Ein mürrisches Ding mit rotgefärbtem Pagenschnitt erscheint, zieht eine Schnute. Sie trägt ein enges Pepsi-Cola-Shirt, das speckige Hüften freilegt, auf denen man locker eine Pepsi-Dose abstellen könnte. Die beiden Polizisten sind in der Aufmerksamkeitshierarchie weit hinter ihrem Kaugummi angesiedelt. Sie schlurft mit gesenktem Kopf hinter die Theke und zieht einen eselsohrigen Zettel hervor.
»Einzel oder Doppel?«
Der Sandner könnte auf der Stelle einen Striptease zeigen oder auf den Händen durch den Raum laufen und dabei »Heidi« jodeln, das würde sie nicht tangieren.
Ihre Worte sind offenbar ein Beruhigungselixier für den Blonden. Die Spannung nimmt sichtbar ab, er erschlafft, verschmilzt mit der Couch zum Gesamtensemble.
Wo dem Herr van Leyden sein Zimmer wäre, will der Sandner vom Pagenkopf wissen. Er guckt ihr auf die mahlenden Kiefer und die narbengezeichneten Unterarme. Als hätte sie etwas zusammenzählen müssen, ein geröteter Strich sauber neben dem anderen.
Kurz ist er abgelenkt, aber selbst wenn er gelurt hätte wie ein Tiger auf das fette Viech, der Auftritt des Blonden wäre nicht zu verhindern gewesen.
Was eine unschuldige Frage für einen durchschlagenden Erfolg haben kann!
Der Kerl schnellt aus dem
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