Der sanfte Kuss des Todes
will Sie.«
Fiona trank noch einen Schluck von ihrem Milchkaffee, der auf einmal bitter schmeckte. Sie schob ihn weg.
Wieder ein Tag, der heiter und sonnig begonnen und sich dann verfinstert hatte. Wieder ein Mord. Wieder ein Zeuge. Wieder eine Frau, die gezwungen wurde, von der Tat zu erzählen und damit die schrecklichsten Momente ihres Lebens noch einmal durchzumachen.
»Werden Sie mir helfen?«
Sie sah auf und bemerkte den entschlossenen Zug um Jack Bowmans Mund. Dass man ihm nur schwer etwas abschlagen konnte, hatte sie schon bei dem Telefonat bemerkt. Dafür war er zu hartnäckig.
Aber es hatte nicht nur damit zu tun. Fionas Blick wanderte zu seiner Hand, die sich um den Kaffeebecher schloss, und sie fragte sich erneut, ob es eine Frau in seinem Leben
gab. Nicht, dass es wichtig gewesen wäre. Fiona fing nichts mit Polizisten an. Das hatte sie einmal getan, einmal zu viel. Sie sah weg.
Warum dachte sie überhaupt über diese Frage nach? Sie kannte diesen Mann doch kaum, und außerdem hatte sie beschlossen, ein neues Leben anzufangen. Dieses Mal würde sie es tatsächlich tun. Keine Gewalt mehr, keine Toten und Verbrechervisagen mehr, die sie bis in ihre Träume verfolgten. Wenn sie jetzt nicht den Absprung schaffte, dann könnte sie es für alle Zeiten vergessen.
»Fiona?«
»Lassen Sie mir etwas Zeit, um darüber nachzudenken«, sagte sie. »Ich rufe Sie an, wenn ich mich entschieden habe.«
Jack Bowmans Worte gingen ihr noch durch den Kopf, als sie die Tür zu ihrem Loft im Zentrum von Austin aufschloss. Sie warf ihre Tasche und den Mantel auf die Holzbank neben der Tür und streifte ihre bequemen, flachen Schuhe ab. Dann verriegelte sie die Tür und legte die Kette vor.
Endlich zu Hause.
Sie schlüpfte aus ihrer Anzugjacke, zog ihre Seidenbluse aus der Hose und durchquerte den Wohnbereich, um ihre Post auf das Sideboard zu legen, das die Küche von dem Rest des Lofts abteilte. Allein schon durch ihre Wohnung zu laufen besserte ihre Laune. Sie war eine Oase der Ruhe. Gleich nach ihrem Einzug hatte sie die Wände mattgrün gestrichen und naturfarbene Sisalteppiche auf den Fliesenboden gelegt, damit er nicht so kalt wirkte. Die sanften Farben wirkten beruhigend auf sie.
Sie öffnete die Kühlschranktür und atmete erleichtert
auf, als sie sah, dass die Flasche Sauvignon Blanc noch zu einem Viertel voll war. Es war ein langer, anstrengender Tag gewesen, an dem sie nach der zweistündigen Fakultätssitzung am Nachmittag auch noch drei Stunden in der Bibliothek verbracht hatte, um nach Dias für das Seminar am Montag zu suchen. Sie wollte nur noch abschalten und malen.
Fiona goss sich ein Glas Wein ein und setzte sich auf einen der Barhocker, um ihre Post durchzusehen: die üblichen Werbeblättchen und Rechnungen und dann noch ein Brief von ihrem Großvater, der in der Nähe in Wimberley lebte. Seine Briefe waren sofort an der schönen Handschrift zu erkennen – er schrieb stets mit schwarzer Tinte – und an den feinen Bleistiftlinien, die er für die Adresse mit dem Lineal zog. Ihr Großvater war Bauingenieur gewesen und ein sehr bestimmender Mensch, aber sie liebte ihn inniglich, was sie vom Rest der Familie nicht sagen konnte. Obwohl sie fünfzig Jahre voneinander trennten, standen sie sich sehr nah. So wusste Fiona sofort, dass sie in dem Umschlag einen Zeitungsausschnitt aus den San Antonio Express-News finden würde, in dem es um das traurige Schicksal irgendeiner alleinstehenden Frau ging. Mehr nicht. Kein Brief, nicht einmal ein Gruß. Nur ein Artikel, der sie dazu veranlassen sollte, einen netten, jungen Mann zu heiraten und eine Familie zu gründen.
Fiona seufzte und legte den Brief zur Seite. Da war noch ein schlichter weißer Umschlag, den jemand von Hand an »Glass« adressiert hatte. Auf der Rückseite stand ein Absender, den sie nicht kannte, irgendeine Adresse in Binford, Texas. Sie nahm ein Messer aus dem Messerblock und schlitzte den Umschlag auf.
Ein kleines, aus einem Spiralblock gerissenes Blatt Papier
fiel heraus. Fiona nahm es und las die zittrigen Blockbuchstaben, die quer darübergeschrieben waren: MACH DICH BEREIT, DU SCHLAMPE. BALD GEHT ES DIR AN DEN KRAGEN.
Sie ließ das Blatt sinken. Dann nahm sie rasch den Umschlag und las den Absender noch einmal. »Binford«. Auf dem Poststempel stand auch Binford. Sie wusste nicht, ob es ein Gefängnis in Binford gab, aber das hieß nicht, dass der Brief nicht von einem Gefängnisinsassen stammte. Als sie noch in Los Angeles
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