Der sanfte Kuss des Todes
sich regelrecht aufgedrängt.«
Carlos schüttelte den Kopf. »Mir gefällt der Gedanke nicht, dass ein Cop an der Sache beteiligt sein soll.«
Das gefiel Jack auch nicht. Vielleicht hatte Carlos ja recht. Vielleicht zog Jack voreilige Schlüsse. Aber sie mussten einfach ein paar Entscheidungen treffen, und zwar bald. Und auch wenn es ihm schwerfiel, er würde Carlos die Führung überlassen müssen.
»Du bist der Boss«, sagte Jack. »Die Entscheidung liegt bei dir.«
Carlos kaute unablässig auf seinem Zahnstocher, während sie über den Highway rasten. Als sie an dem Schild vorbeifuhren, das sie in Borough County willkommen hieß, konsultierte Carlos noch einmal die Karte. Er rief erneut auf der Dienststelle an, und nach einem kurzen Gespräch mit Sharon legte er wieder auf.
»Lowell ist verschwunden«, berichtete er. »Und ich habe die Adresse.«
Fiona saß in ihrem Honda, und der Schweiß rann ihr in Strömen über den Rücken. Ihr war unter all den Schichten Samt heiß, und ihr Herz pochte. Von Santos war nichts zu sehen. Immer noch nicht. Und Jack konnte sie nicht noch einmal anrufen. Nervös fummelte sie an ihrem Armband herum und versuchte zu einer Entscheidung zu kommen.
In einiger Entfernung hörte sie einen Hund bellen. Durch die Windschutzscheibe sah sie über den Bäumen einen Lichtschein. Ein Haus vielleicht. Ein Haus, in dem jemand Brady gewaltsam festhielt.
War es das Haus von Viper? Sie wusste es nicht. Sie wusste eigentlich überhaupt nichts, außer dass diese Untätigkeit sie verrückt machte. Sie musste etwas unternehmen. Sie konnte doch nicht einfach hier herumsitzen, wenn in nächster Nähe ein Kind in Gefahr war!
Ihr Herz krampfte sich zusammen, und sie schloss die Augen. Sie fühlte sich wieder wie damals, als sie noch ein Kind war und in Los Angeles in der winzigen Wohnung mit den schäbigen Teppichen und den dünnen Wänden saß. Sie erinnerte sich an die Dunkelheit, an die Geräusche, daran, dass auch damals ihr Herz gerast hatte, als sie dalag und sich zu sehr fürchtete, um aus dem Bett zu steigen und etwas gegen das zu tun, was im Nebenzimmer vor sich
ging. Courtney hatte ihr schon vor Jahren verziehen, aber Fiona würde es sich nie verzeihen.
Sie konnte nicht einfach so dasitzen. Aber was sollte sie tun?
Dann kam ihr eine Idee, und sie öffnete die Augen. Sie ließ den Motor wieder an, wendete und kroch langsam zum Highway zurück. Sie hatte die Scheinwerfer nicht eingeschaltet und betete, dass sie nicht von der Straße abkam, während das Auto einen kleinen Abhang hinunterrollte und über die Brücke fuhr. Jenseits ihres Armaturenbretts war alles in tiefste Dunkelheit getaucht, und selbst dessen schwache Beleuchtung hätte sie am liebsten ausgeschaltet. Wenigstens war ihr Honda relativ leise, und sie fuhr langsam. Als sie spürte, wie der Fahrbahnbelag von Schotter zu Asphalt wechselte, fuhr sie rechts an den Seitenstreifen und hielt an. Sie nahm ihr Handy und stieg aus.
Ihr Handy als Taschenlampe vor sich haltend, ging sie vorsichtig zu der Stelle, an der die beiden Straßen aufeinandertrafen. Sie suchte den Straßenrand ab, bis sie einen Pfahl entdeckte, auf dem sich das befand, wonach sie gesucht hatte.
Ein Briefkasten. Mit einer Flagge bemalt.
Weder Lowell noch sonst irgendjemand schien zu Hause zu sein. Der Mann wohnte in einem kleinen einstöckigen Holzhaus, das Jack an sein eigenes Haus erinnerte, außer dass Lowells einer Müllkippe glich. Auf der Veranda stapelten sich Abfallsäcke, und die Fliegengittertür am Eingang war völlig zerfetzt. Lowell schien seit seiner Scheidung vor zwei Jahren – die nach seiner Aussage im schönsten Einvernehmen erfolgt war – an dem Haus nichts mehr gemacht zu haben.
Stimmte das mit der Scheidung? Jack wusste es nicht. Noch vor einer Stunde hätte er geschworen, dass er seine Mitarbeiter gut kannte. Das kam ihm jetzt mehr als fraglich vor.
Jack sah sich um und lauschte. Aber es war nichts zu hören, bis auf das Rascheln des schon seit Ewigkeiten nicht mehr geschnittenen vertrockneten Grases in der nächtlichen Brise. Es waren keine Autos zu sehen, kein Licht, nichts.
Carlos kam von der hinteren Veranda wieder und steckte seine Pistole zurück ins Holster. »Nichts. Ich glaube, hier ist niemand.«
Jack wäre am liebsten sofort weitergefahren, er war sicher, dass sie hier nicht fündig wurden. In dem Moment fiel sein Blick auf Lowells kleine windschiefe Holzscheune. Eine einsame Glühbirne baumelte über der Tür.
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