Der sanfte Kuss des Todes
Schattenmann.«
»Er sagte, er würde das Haus manchmal beobachten. Nachts, von dem Baum aus. Er hat mir heute das erste Mal davon erzählt.«
Jack versuchte, keine Reaktion zu zeigen, fühlte aber eine alte, lang unterdrückte Wut in sich aufsteigen.
»Bleib hier«, sagte er.
Er entriegelte die Hintertür und stieß sie weit auf. Draußen war niemand zu sehen, aber sicherheitshalber holte er die Waffe aus dem Holster an seiner Hüfte. Das vertraute Gewicht in seiner Hand half ihm dabei, eher wie ein Polizist als ein Freund mit Beschützerimpuls zu denken.
Die Nacht war dunkel und kalt, der Mond nur eine schmale silberne Sichel hoch oben am Himmel. Ideale Bedingungen, wenn man jemandem auflauern wollte, ohne selbst gesehen zu werden.
Jack lief über die Wiese und duckte sich vorsichtig zwischen zwei Reihen Stacheldraht durch, damit er nicht mit der Jacke hängenblieb. Das war das Land der Nelsons, und
der Farmer hielt einige Dutzend Rinder auf der benachbarten Weide. Jack blieb unter der Eiche stehen und zog eine kleine Taschenlampe aus seiner Tasche. Er suchte den Boden unter dem Baum ab, bis der Lichtstrahl auf etwas Kleines, Weißes traf. Eine Zigarettenkippe. Wahrscheinlich mit dem Absatz an einer Baumwurzel ausgedrückt. Jack bückte sich.
Die Zigarettenkippe bestätigte Lucys Geschichte, im Übrigen bereitete sie ihm allerdings Kopfzerbrechen. Warum sollte jemand sie zurücklassen? Warum einen anderen im Schutz der Dunkelheit beobachten und ihm auflauern, und dann das Risiko eingehen, dass ihn die Glut und der Rauch einer Zigarette verrieten? Und warum dann auch noch die Kippe zurücklassen?
Warum eine junge Frau töten und dann ihre Leiche an einem vielbefahrenen Highway abladen? Warum die Tochter eines bekannten Politikers entführen? Wenn der Täter es darauf abgesehen hatte, junge Frauen zu vergewaltigen und zu ermorden – wobei der Mord auch nur dazu dienen konnte, die Zeugin aus dem Weg zu räumen -, warum hinterließ er dann der Polizei eine Spur?
Es sei denn, es ging ihm auch darum, die Polizei an der Nase herumzuführen. Oder die Öffentlichkeit insgesamt. Oder auch einen bestimmten Teil der Öffentlichkeit, der sich durch die Wahl der Opfer bedroht fühlen könnte?
Wenn, dann gehörten die Arrellandos jedenfalls dazu. Und vielleicht sollte ihnen mit dem Besuch heute Abend noch mehr Angst eingejagt werden.
Jack nahm ein Paar Latexhandschuhe aus seiner Jackentasche und streifte sie über. Im Morddezernat hatte er es sich angewöhnt, jederzeit und überall vorbereitet zu sein, und diese Gewohnheit hatte er auch in Graingerville nicht
abgelegt. Er nahm die Zigarette und ließ sie in eine der kleinen braunen Tüten fallen, die sich zusammengefaltet in seiner Tasche befanden. Es war kalt, was es wahrscheinlicher machte, dass der Kerl Handschuhe getragen hatte, jedenfalls unwahrscheinlicher, dass seine Finger verschwitzt waren und damit einen guten Abdruck hinterließen. Aber auf jeden Fall würde sich Spucke daran befinden, und da inzwischen das FBI an dem Fall beteiligt war, bestand vielleicht sogar die Möglichkeit, dass irgendein Labor innerhalb der nächsten ein, zwei Jahre eine Analyse davon lieferte.
Jack verstaute die Tüte in seiner Tasche und fuhr fort, den Boden mit der Taschenlampe abzusuchen. Die nächsten zehn Minuten verbrachte er damit, suchte systematisch Zentimeter für Zentimeter ab, und wollte gerade aufhören, als mit einem Quietschen die Hintertür aufging. Lucy kam die Stufen herunter und lief auf ihn zu, die Arme vor der Brust verschränkt, um sich gegen den eiskalten Wind zu schützen, der von den Weiden her wehte.
»Was gefunden?«
»Vielleicht. Du solltest wieder reingehen.«
Sie zuckte die Achseln. »Wir wissen doch beide, dass er nicht mehr hier ist.«
»Nein, das wissen wir nicht.«
»Doch.«
»Wann kommen deine Leute zurück?«
»Am Morgen.« Sie legte ihren Kopf auf die Seite. »Geh nach Hause, Jack. Du willst doch überhaupt nicht hier sein.«
Er knipste die Taschenlampe aus und steckte sie in seine Tasche,
»Du hast gerade mit ihr geschlafen, oder?«
Er seufzte. »Lucy …«
»Das seh ich doch. Diesen Blick kenne ich.« Sie drehte sich um und rannte zurück zum Haus. An der Tür drehte sie sich zu ihm um. »Es ist in Ordnung, Jack. Das nächste Mal rufe ich den Sheriff.«
KAPITEL 15
Es überraschte Nathan immer wieder, wie dumm sich manche Kriminelle anstellten. Er starrte auf den Bericht auf seinem Schreibtisch und schüttelte den Kopf angesichts
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