Der Saubere Tod
denen nichts entgehen durfte. Die unsichtbaren Augen auf seinem Rücken brannten Löcher in die Wand hinter ihm. Der ist eine raffinierte Ratte! sagte sie. Und Dschumblat! Barbaras Augen und ihr Mund formten einen Erinnerungsrahmen aus Amüsiertheit und Verachtung: Ein Kiffer. Dann kehrte sie zurück und sah Johann an und sagte: So!
Sie sagte So, als sei sie mit einer Aufzählung fertig und nun sei er an der Reihe. Aber natürlich hatte er nichts zu erzählen noch aufzuzählen. Dann nahm sie ihn in die Arme. Johann dachte an ihre Berichte und fühlte sich unwohl, ihren Kopf an seiner Schulter. Er lag lange wach und fragte sich: Und wie wäre das? Wäre das nicht etwas? Das könnte einiges lösen, und es war sauberer als alle Therapien. Aber dann fragte er sich, was er mit alldem zu tun hatte, und beschloß, gar nichts zu machen am nächsten Tag.
Er ging ins Kino mit Barbara, und auf dem Rückweg fiel ihnen auf, daß sie einander mit den Armen umfaßt hielten wie ein Liebespaar. Der große Raum war leer, aber Barbara wollte in ihr Zimmer, und als sie die Tür geschlossen hatte, begann sie noch einmal vom Libanon zu erzählen.
Die Tür ihres Hotelzimmers war aufgeschlossen worden, obwohl sie sie abgeschlossen hatte, und der braunhäutige Syrer gehörte zu denen, deren Uniform der Trenchcoat ist. Er schloß wieder ab, und als sie protestierte, schlug er ihr mit dem Knauf des Automatikrevolvers zwei Schneidezähne ein und begann dann ihre Papiere durchzuwühlen, die er nicht lesen konnte, und riß eine angefangene Seite aus der Schreibmaschine. Dann drehte er sich um zu ihr und hielt die Pistole auf sie, bis sie sich ausgezogen hatte. Dann öffnete er den Gürtel, streifte den Trenchcoat zur Seite und grub sich zwischen ihre Schenkel, die er knetete und preßte, bis die Haut weiße Spuren seiner Finger zurückbehielt. Er grunzte kaugummikauend an ihrem Ohr, während seine rechte Hand an ihrer Schläfe die Pistole nicht ausließ, und nur die Stöße wie in einem holprigen Zug und das Quietschen des alten Kaugummis in seinem Mund störten ihre Gedanken, die sie, einer Sonne hinterher, weit fortgeschickt hatte. Die Angst kam wie ein Brechreiz, als er aufstand, aber er nahm sie nicht mit und schoß auch nicht auf sie, sondern schloß nur wieder auf und verließ das Zimmer. Am nächsten Tag besorgte sie sich über Freunde eine Pistole, fast jeder trug eine Pistole in Beirut, aber nichts Vergleichbares kam wieder vor.
Am Morgen richtete sie sich im Bett auf. So! sagte sie. Heute abend werde ich nicht dasein. Ich habe zu tun. Johann nickte und schlief wieder ein und wachte erst auf, als die Mittagshitze gegen die großen Scheiben schlug und er im Traum zu schwitzen begann.
Am Abend ging er mit Anatol hinter der nachtschwarzen Thomaskirche an der Mauer entlang. Johann strich im Gehen mit der Hand über den Beton und fühlte sich verbunden mit der Nacht und dem Stein und der Zeit, die die Abstände zwischen den matten Straßenlaternen gleichmäßig füllte. Er spürte seine Hand den kühlen glatten Beton entlanggleiten;die Mauer war besprüht und bemalt hinter dem Bethanienkomplex, bunte Fabeltiere mit Rüsseln, Marsmenschen in Grün und Gelb, gequetschte und deformierte Menschenleiber in Blau und Rot; die Mauer, versuchte er zu denken, DIE Mauer, aber es war und blieb nur eine Mauer; jede Stadt hörte irgendwo auf. Unter den Laternen, die Kübel alten Lichts über die beiden ausgossen, blickte Anatol auf Johanns Gesicht. Ein kühler Nachtwind wehte Stadtgeräusche heran.
Du bist jünger als irgend jemand auf der Welt, sagte Anatol. Er hatte plötzlich das Gefühl, das Tempo nicht mehr halten zu können. Johann sah ihn ungeduldig an. Er spürte die eindeutige Konsistenz des Betons unter seiner Hand, er wollte sich von den Wellen der Stadt bewegen lassen, von ihren Lichtpunkten angezogen werden, in ihre dunklen Weiten zurückfluten, in ihrem strudelnden Tempo nach oben wirbeln, in ihrem Metallglanz glänzen und in den morgendlich an den Häusermauern hinabkriechenden Schatten vergehen.
Warum machst du das? fragte Anatol.
Was?
Mit deiner Hand über den Stein streichen.
Ich weiß nicht. Fühlt sich angenehm an. Ist fest und kühl. Keine Ahnung.
Eine Mauer ist eine Mauer ist eine Mauer ist eine Mauer, sagte Anatol.
Jedenfalls hab ich was unter den Händen.
Gewißheit? fragte Anatol.
Johann sagte nichts.
Man braucht keine Angst zu haben, sagte Anatol.
Wovor?
Vor der Ungewißheit. Wir selbst sind die Erklärung.
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