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Der Saubere Tod

Titel: Der Saubere Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Kleeberg
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notwendig. Der Mensch, der diese Musik interpretiert, ist gleichzeitig der Zufallsgenerator. Von dem, was er ohne Planung in irgendeinem Moment tut, wird abhängen, welcher Zufall eintritt. Jeder der Sätze von der Mauer wird mit irgendeiner Tonfolge versehen in den Computer eingegeben. Beim Spielen wird der Interpret blind wählen. Er wählt, aber er steht gleichzeitig mitten im blinden Spiel des Zufalls; was er wählt, bleibt sich gleich.
    Das muß scheußlich werden, sagte Barbara.
    Gewiß – das eine Mal. Das nächste Mal vielleicht wunderschön, dann angsterregend, dann monoton. Was gleich bleiben wird, ist nur der Mensch in der Mitte, der die Kette antippt und ihr dann ausgesetzt ist.
    Das wird kein Zuhörer ertragen, sagte Barbara.
    Aber alle alle werden gleichgestellt sein, rief Anatol. Der Komponist, der Interpret, der Zuhörer, jeder wird zu einer Klippe inmitten der brandenden Musik.
    Barbara nickte. Jeder zu einem Amokläufer inmitten einer sich metzelnden Masse.
    Vielleicht, aber die Verlogenheit hört auf, sagte Anatol. Das Künstlergetue. Das ganze Geniemärchen. Die intellektuelle einsame Sackgasse. Man hat so getan, als könne und dürfe es nicht mehr weitergehen, als müßte man sich die Inspirationen von sonstwo holen. Aber die Wirklichkeit hat sich darum nicht geschert und laut lachend doch weitergemacht. Seht euch Jazz an! Seht euch Pop an. Kein Rangunterschied zwischen Komponist und Interpret, die reine Anarchie in der Ausführung. Ich pfeife auf die Inspiration. Es ist nur noch nicht weit genug gegangen. Noch nicht bis zur totalen Herrschaft des Zufalls, bis zur völligen Negierung des Intellekts und der wirklichen Gleichberechtigung aller Beteiligten.
    Gleichberechtigung im Leiden, sagte Barbara.
    Die Musik, die möchte ich hören, sagte Johann. Hören muß ich die, bevor ich was dazu sage.
    Anatol legte die Hände auf den Tisch. Ja, gemacht ist das alles noch nicht.
    Aber das verfluchte Chaos existiert doch schon, sagte Barbara. Wie kannst du es da noch feiern?
    Ich bin kein Moralist. Wenn es existiert, muß es auch in die Musik.
    Nein, sagte Barbara. Man muß dagegen arbeiten. Selbst wenn die Vernunft ein Kerker ist.
    Anatol lachte auf. Ja, was ist denn aber deine Vernunft? Worauf stützt du dich denn? Wo ist das Unverrückbare, das dir die Perspektive gibt? Das, was sicherer steht als der Mensch selbst, das, was glaubhafter ist als der Mensch. Zeigs mir. Zeigs mir, und ich glaube dran. Ich glaube gerne an alles, wenn nur irgendwas da ist.
    Johann stand auf und verließ den Raum.
     
    Es war ein Aufmarsch aus einem Traum. Die Menschen, die in den Zuschauerraum des Bethanienhauses fluteten, hätten das Premierenpublikum einer Oper sein können, gravitätisch, zurückhaltend, leise raschelnd, aber etwas stimmte nicht, sie sahen anders aus, es waren neue Formen und Farben und ein anderer Rhythmus, es war Jugend, tiefgefroren und ein Jahrhundert konserviert, ungeduldig auf die Dunkelheit wartend, Köpfe, die nicht von scharfen Falten geprägt waren, sondern von Schatten umspielt, die die Augen verschleierten und Stirnen verdunkelten und, von unsichtbaren Lichtern geworfen, sich leicht und doch lastend auf Gesichter und Hände legten.
    Johann saß zwischen Anatol und Barbara und beobachtete die Eintretenden. Es war ein straßglitzernder Trauerzug, als sei ein Sektenführer gestorben und sein seltsames Gefolgefinde sich nach den Regeln einer auswendig gelernten Etikette zu seinem Requiem ein, einem Requiem zur Stahlwerksmusik der Einstürzenden Neubauten, deren hypnotische Hammerschläge die Andacht plötzlich in eine Orgie verwandeln und die Gäste in ein lautloses getriebenes langersehntes Massaker stürzen würden, um endlich alles zu beenden. Da waren die Frisuren der Frauen, die sich über die Köpfe türmten oder an ihnen entlangglitten, die schwarzen Stiefel, die bis zu schmalen Fesseln reichten, oder Pumps, aus denen nackte Fersen wippten; das Schwarz, das die Körper umschmiegte oder einschloß, reichte von Lumpen über satinschimmernde Roben bis zu engen Uniformen, die aus den Frauen eine entschlossene Armee machten, zwischen der die jungen Männer in weiten Jacken und Hosen umherflossen, in ihrer Unbeständigkeit deren Eindeutigkeit umspielten. Die einzigen Geräusche waren das Rascheln, Schaben und Hauchen von Flanell auf Seide, Leder, auf Polyester. Dazwischen leuchteten rote und grüne und weiße Kleider und Anzüge und huschten zwischen dem Schwarz hindurch, Hofnarren, die

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