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Der Saubere Tod

Titel: Der Saubere Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Kleeberg
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Materie ist sichtbarer Geist. Das macht Materie überhaupt nur sinnvoll, daß sie aus Geist kommt.
    Sinnvoll? Die Mauer ist da, das ist alles.
    Anatol schüttelte den Kopf. Spürst du einem Tier, einemStein, einem Baum gegenüber nicht auch so etwas wie Verwandtschaft, eine dunkle Erinnerung, im Schlaf, im Traum?
    Johann lachte. Am ehesten gegenüber einem Stein.
    Genau! rief Anatol. Was ich sagte: Du bist der jüngste Mensch, denn du fühlst die Verwandtschaft zum Ältesten! Alles, was da ist, hat der Mensch in sich drin. Alles sind Entwicklungen aus seinem Geist. Alles existiert nur, weil der Mensch es sich vorstellen konnte. Alles kam aus ihm heraus. Er war von Anfang an da. Und die ganze Erde ist nur die Materialisierung all dessen, was der menschliche Geist in sich drin hat. Die Erde selbst, der Stein, das Leblose ist die Materialisierung deines Todes. Sie sind die ältesten Erscheinungen, sie haben die längste Zeit gehabt, sich zu entwickeln. Das ist der Irrtum der Wissenschaft! Der Stein ist viel vollkommener als der Mensch selbst, denn der Mensch ist die jüngste Materialisierung seines eigenen Geistes und als solche noch kaum geboren und viel unvollkommener als ein Stein. Ein Stein ist schon komplett, seine Entwicklung ist abgeschlossen. In deinem Schlaf bist du eine Pflanze, das bestätigt sogar die Wissenschaft. Auch die Pflanzen sind auf ihre niedrigere Art viel weiter als wir, genau wie die Tiere, die die dritte Stufe unseres Geistes waren, die Stufe des Traums. Aber irgendwann, unfehlbar, wird der Mensch selbst, als das wache Wesen, auf seine Art so vollkommen sein, wie es ein Stein heute schon ist.
    Wo hast du denn diesen Schwachsinn her? fragte Johann.
    Das ist kein Schwachsinn, das ist absolut kein Schwachsinn.
    Du bist noch nicht genug beschissen worden.
    Nein, du bist noch nicht genug beschissen worden.
    Wenn wir eine Entwicklung sind, dann eine falsche.
    Wir haben Zeit, sagte Anatol.
    Ich nicht, sagte Johann.
    Sie gingen schweigend weiter.
    So ein Unfug, sagte Johann.
    Die Zeit, der Zufall, sagte Anatol. Sich dem Zufall zu überlassen ist das einzige Mittel, das Unendliche zu fixieren.
    Dein Zufall! Das sind blinde Bettler, die in U-Bahn -Tunnels verrecken, das sind Leute, die sich gegenseitig abknallen, das ist, was weiß ich, Krieg. Das ist nichts, gar nichts!
    Anatol schüttelte den Kopf. Doch, doch, doch. Gerade weil ich weiß, daß wir das Ziel sind und der Weg auch, gerade weil ich weiß, daß menschlicher Geist den Menschen schafft, kann ich mich dem verdammten Zufall überlassen. Natürlich ist es kein Spaß, natürlich hast du recht, aber sieh doch, was bleibt in all dem Chaos, was wird, das sind wir, und deshalb kannst du beruhigt in der Mitte stehenbleiben, als Mittelpunkt aller dieser auf dich einstürzenden furchtbaren Zufälle. Genau das versuche ich auch in Musik zu bringen.
    Mit den Mauersprüchen? fragte Johann.
    Anatol nickte. Ich werd dirs erklären, wenn du willst.
    Ja, aber nicht heute abend. Heute abend will ich keine Entwicklung sein.
    Sie gingen die Waldemarstraße entlang am Frontkino vorbei und folgten dem früheren Kanal bis zum Oranienplatz, auf dessen schmutzigem Gras die Türkenfamilien zwischen Autoabgasen die Sommersonntage verbrachten. Dann war die Musik aus der Rosa-Bar zu hören, wo im Lichtschein Stühle vor der Tür standen, und sie traten ein.
    Vom gekachelten Vorderraum bis nach hinten zwischen die Brandmauern war die Bar voller Menschen, eine Voliere exotischer Vögel, eine ekstatische Trauergemeinde, in deren Gegenwärtigkeit Johann aufging, bei deren Anblick Realität und Fiktion ununterscheidbar wurden.
    Anatol trank und beobachtete Johann.
    Weißt du, sagte er, ich mache mir schon lange Gedanken darüber.
    Worüber? fragte Johann. Sein Blick schweifte durch den Raum.
    Über die ganze Geschichte. In der Schule war ich Kommunist.
    Johann sah ihn an.
    Anatol lachte. Ja ja, ich weiß. Später war ich in Indien und Jerusalem. Immer auf der Suche. Es gibt nicht viele Leute, mit denen man darüber reden kann.
    Nein, sagte Johann.
    Und man verliert auch den Kontakt, sagte Anatol. Hier in Berlin in der Wohnung war einer, dachte ich. Aber der hat mich dann halb verrückt gemacht.
    Er trank und legte die Hände auf die Tischplatte.
    Da sind natürlich die Musiker, mit denen ich spiele. Aber nach dem Spielen hören die Gemeinsamkeiten auf.
    Kennst du hier viele Leute? fragte Johann.
    Hier in der Bar? Vom Sehen.
    Ich brauch Kontakte, sagte Johann.
    Mit wem?
    Johann

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