Der Saubere Tod
Bandes beobachtete Johann ihn. Sein Gesicht wurde von unten beleuchtet, Schatten wie Lepralöcher in seinen Wangen, nichts erinnerte an den rosigen ehrgeizigen Anatol, der in der Roten Rose am Bier sparte und in Berlin als Studiomusiker gefragt war.
Dann setzte die Musik vom Band ein.
Es war ein schrilles Sirren oder Zirpen, schmerzhaft laut, dann tiefer und quakender, ein metallischer Froschchor, als sei eine morgendliche Sumpfwiese zum Leben erwacht, aberdie Töne klangen nicht natürlich, eine Armee von Ersatzgeschöpfen kreischte einen gläsernen Kunsttag ein, schließlich waren alle verschiedenen Stimmen eingefallen, tausendfach verstärkt sirrte ein Umspannwerk, die Alarmtröte eines Militärstützpunktes trompetete quäkend, ein Wald von Sirenen heulte Bombenalarm, dann plötzlich Stille, die noch schmerzhafter war als der infernalische Lärm, und in den Abgrund von Tonlosigkeit schlug Anatol das Klavier an, rhythmisch hämmerte er ausschließlich auf den Baßtasten Synkopen, die bald wie der Ruf von Buschtrommeln klangen, bald wie in Beton wühlende Schlagbohrer, ba dam – da dam, ba dam – da dam ohne Unterlaß, und das Tempo steigerte sich, und plötzlich war das Band wieder dabei, schwirrende, brummende Kreissäge; Unmelodien, die elektronischen Schreie und die trommelnden Hämmer des Klaviers bekämpften einander, es war Musik, die schmerzen sollte, körperlich schmerzen, nichts anderes, sie verfolgte kein anderes Ziel als weh zu tun, sich selbst und dem einzigen Zuhörer, den sie hatte, sie war völlig verrückt, keine Ordnung bändigte sie, kein Zusammenhang erklärte sie, ihre Wirrnis drohte mit Endlosigkeit, die Geräuschwellen liefen voneinander fort, ohne in irgendeinem Thema wieder zusammenfinden zu können, und rissen an Johann, dann war es wieder nur noch das Klavier, das Schwerter schmiedete, dann leiser wurde, langsamer, und nun ertönte vom Band ein irrwitziger Chor, eine Hymne, ein verrückt gewordener Computer imitierte Menschenstimmen, er kannte sie, er hätte sie so gut nachahmen können, daß niemand gezweifelt hätte, aber er mokierte sich, ließ Mutanten greinen, Roboter einen Hymnus rasseln, kalt wie Eisblöcke, leblose Materie, die dennoch elektrisch geladen zuckte und flimmerte wie menschliches Leben; dann plötzlich vermeinte Johann etwas wiederzuerkennen, was er schon einmal gehört hatte, wie Menschen, denen man am Tag begegnet war, in Träumen alsfratzenhafte Karikatur ihrer selbst erscheinen, und sein schmerzender Kopf zweifelte einen Moment lang, ob nicht doch System in der Musik stecke. Begleitet von den wieder anschwellenden Buschtrommelsynkopen, wand sich der Chor empor, spiralte sich höher und höher, eine schiefgedrehte Schraube, die sich mit schrecklich mahlendem Geräusch in ihrem Gewinde festfraß, die nadelspitzen Klänge stachen in Johanns Ohren, die rhythmischen Konvulsionen drückten sein Gehirn durch einen Fleischwolf ...
Aufhören! schrie er. Das ist ja nicht auszuhalten!
Er sprang auf, riß das schwarze Laken vom Fenster, und der Silberschimmer einer klaren Winternacht breitete sich über das Zimmer.
Anatol war aufgestanden und hatte den Recorder ausgeschaltet.
Tut es weh? fragte er leise.
Johann winkte wortlos ab.
Du hast doch Waffen in deinem Zimmer, flüsterte Anatol mit einer Stimme, die wie eine heiser zitternde Wiederholung seiner elektronischen Chöre klang.
Darf ich die benutzen?
Johann sah auf.
Darf ich die benutzen?
Wie benutzen?
Darf ich die benutzen? fragte Anatol eindringlich.
Mach, was du willst, Spinner, sagte Johann. Er hatte genug. Er hatte mit diesem Verrückten nichts zu schaffen. Fremd war der, und Johann sah ihn an wie ein Traumbild. Er war ja allein. Es gab ja niemanden außer ihm. Er blickte hoch, als Anatol das Zimmer verließ. Dann stand er auf, trat ans Fenster, überlegte einen Moment, was Anatol mit den Waffen tun würde, sollte er damit tun, was er mochte, und betrachtete den schwarzen Samthimmel, an dem Mond und Sterne hingen wie Silberschmuck in der Auslage eines Juweliers.
Was währenddessen passierte, erfuhr er erst zwanzig Minuten später von einer aufgebrachten Barbara, die die Tür von Anatols Zimmer aufriß. Was hast du mit ihm gemacht?
Ich? Nichts, sagte Johann.
Er hat versucht, sich umzubringen!
Er spinnt, sagte Johann.
Ja, allerdings, schrie Barbara. Aber gestern hat er noch nicht gesponnen.
Er spinnt schon lange.
Was hast du mit ihm gemacht?
Überhaupt nichts. Er hat mir Musik vorgespielt und
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