Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Saubere Tod

Titel: Der Saubere Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Kleeberg
Vom Netzwerk:
und das Vorderhaus schmolz und ein gebleichtes Skelett freigab, wenn alles Fleisch abfiel, auch wenn alles so an Bewegung und Geschwindigkeit zunahm, war doch klar, daß wir nicht mehr mitmachten. Wir waren draußen. Wir waren außerhalb ihres Drinnen und jetzt auch außerhalb dessen, was wir für unser Drinnen gehalten hatten.
    Und wirklich war ja alles, was dann kam, auch wenn es für die Wessis und die Zeitungen erst jetzt richtig losging, nur noch Rückzugsgefechte. Das Ende kam schon mit der Winterfeldtdemo, du weißt, als sie diesen Rattay umbrachten. Sie sperrten die Häuser in der Winterfeldt, der Bülow und der Knobelsdorff vorne und hinten mit zehn Meter hohen Gittern ab, und dann kamen sie rein. Alle brennenden Autos, alle zerplatzenden Schaufenster änderten nichts. Und Lummer, nachdem die Bülowstraße geräumt war, ging er unter Polizeischutz in den ersten Stock hoch und auf den Balkon und winkte für die Presse runter, der Feldherr nach gewonnener Schlacht, der verdammte Faschist.
    Es war eine erstklassige Geschichtsstunde für alle, die dabei waren: Macht entscheidet, und nur wer die Macht hat, seine Ziele mit Gewalt durchzusetzen, bleibt Sieger. Der Rest wird vor die Tür gekehrt. Und es hat noch nicht einmal viel Sinn, ihn umzubringen, denn vor der Tür steht tausendfacher Ersatz, der seine Sache genauso machen wird.
    Du mußt eben nicht einen Lummer umbringen, sagte Johann.
    Sondern?
    Sondern irgendeinen. Egal wen. Es bleibt sich gleich. Es spielt gar keine Rolle. Entscheidend ist der Tod. Jeder kann so sterben. Nicht nur die.
    Maria deutete auf die Waffensammlung. Damit? Johann zuckte die Schultern. Irgendwie. Irgendwen. Aber bald. Hier draußen kann ich es leicht tun.
    Er fühlte sich herausgesogen aus allem, was ihn umgab, er verließ seine Haut, die in den Kleidern sitzenblieb, wurde emporgehoben, flog hinterrücks mit einem dumpfen Knall durch die geschlossene Fensterscheibe, höher und höher, ließ das weiße Haus unter sich mit dem Viereck des brachen Hinterhofs, erhob sich über die grauen Wellen Kreuzbergs, immer nach hinten und oben fortgerissen, hinauf über die Stadt, immer weiter in immer dünnere und reinere Luft, bis das Muster von Straßen, Autos, Bahnen und Menschen ganz einfach, klar und geometrisch wurde, logisch und überschaubar, und das sich bewegende Leben in einen schwarzen Punkt einschmolz, den er deutlich umrissen im Visier hatte, von hier draußen im Visier, und er mußte nur noch abdrücken, und die Schleusen des Himmels würden sich öffnen, blutrot, und das Vakuum bräche mit einem Knall in sich zusammen, und er hatte die Gestalt im Visier, den Menschen, der sich die Straßen entlangbewegte, den Menschen, eine fremde Ballung von Molekülen, und emporgerissen und herumgewirbelt am anthrazitfarbenen Himmel, immer schneller, bis die Sterne ein helles fließendes Band wurden, der Mond sich drehte wie eine Töpferscheibe, da wußte er, daß er abdrücken würde, jetzt, jetzt und jetzt, zurückgekehrt auf die Straße, sobald sein Opfer das Zeichen geben würde.
     
    Am nächsten Tag wurde Anatol verrückt. Er hatte sich in seinem Zimmer verschanzt und von Woche zu Woche weniger von sich hören lassen. Als er an diesem Abend Ende Januar Johann zu sich bat, war sein Gesicht bleich, seineAugen glühten fiebrig, seine Bewegungen hatten etwas Unkoordiniertes.
    Erinnerst du dich? fragte er leise. Unser letzter Sommer? Die Kriegsgöttin. Ich glaube, ich habe jetzt was, ich weiß aber nicht –
    Johann sagte nichts.
    Verstehst du. Eine Herkunft, ein Mythos, Väter, Mütter, eine Jugend   ... Anatol hörte auf zu sprechen.
    Johann erkannte Anatols Zimmer kaum wieder. Es war dunkel wie eine Theaterbühne vor dem Auftritt, ein schwarzgefärbtes Laken war vor das Fenster gespannt, schwarze Tücher über die Lampen gebreitet, und die einzige Lichtquelle war die Klavierbeleuchtung über dem Notenständer. Johann stieg der verhaßt-vertraute Geruch eines ungemachten verschwitzten Bettes in die Nase, und er spürte seinen Magen, setzte sich aber auf den Stuhl, den Anatol mit einer fahrigen Bewegung von aufgetürmten Wäschebergen freiwischte und ihm zuwies.
    Er stand ganz dicht vor Johann, und der roch den alkoholisierten Atem des andern.
    Du hörst zu?
    Johann nickte.
    Anatol setzte den Cassettenrecorder in Gang, auf den er mit Synthesizer die Grundmelodien und die elektronischen Chöre gespielt hatte, und begab sich zum Klavier, um seinen Einsatz abzuwarten. Im leisen Rauschen des

Weitere Kostenlose Bücher