Der Schachspieler
Kreaturen, die einen Wutanfall bekamen, wenn der Aperitif einmal lauwarm war, und die es keine fünf Minuten aushielten, ohne dass ihnen irgendein Speichellecker versicherte, wie großartig sie waren – kurz gesagt: ein unausstehliches Pack. Es kostete ihn alle Mühe, diese Leute bei Laune zu halten. Wie gern würde er Mäuschen spielen, wenn sich herausstellte, dass ihre Anlagen nicht das Papier wert waren, auf dem sie gedruckt wurden. Wie gern hätte er in diesem Augenblick ihre Gesichter gesehen, wenn ihnen dämmerte, dass ihre goldenen Jahre vielleicht nicht ganz so golden werden würden, wie sie es sich ausgemalt hatten.
Bei alldem schätzte sich Hartzell durchaus selbst als Soziopathen ein, dem man als Kind das Gespür für richtig und falsch herausgeprügelt hatte, doch es gab eine Schwachstelle in seiner Rüstung: die Liebe zu einer ganz besonderen jungen Frau, seiner Tochter, die ihn in seinen Augen fast menschlich machte. Diese Vaterliebe würde ihn wahrscheinlich eines Tages zu Fall bringen, weil sie ihn davon abhielt, alles hinter sich zu lassen und sich irgendwo auf den Karibischen Inseln oder einem anderen netten Plätzchen ein schönes Leben zu machen, unter einem falschen Namen und mit einem Bankkonto, das niemals leer wurde.
Hartzells Achillesferse hieß Lucy: eine entzückende junge Frau mit aristokratischen Zügen, wachen braunen Augen und einer schnellen Zunge. Lucy war einem kurzen Techtelmechtel mit einer unbedeutenden englischen Schauspielerin entsprungen, die vor zwanzig Jahren eine Nebenrolle in einer schwachen Broadway-Produktion gespielt hatte. Er hatte es einfach als angenehm empfunden, ein bisschen Zeit mit einer schönen Frau aus seiner alten Heimat zu verbringen. Alison ging ihm jedoch bald auf die Nerven, und er war froh, als ihr Gastspiel hier zu Ende ging und sie zurück ans Piccadilly Theatre ging, um dem anspruchslosen Publikum weiteren Schwachsinn vorzusetzen. Hartzell war so erleichtert, dass er sie persönlich zum Flughafen JFK brachte. Umso erzürnter war er, als sie zehn Tage später anrief und ihm mitteilte, dass sie von ihm schwanger sei.
Hartzell bemühte sich nach Kräften, Alison zu einer Abtreibung zu überreden, doch diesmal blieb sein Charme wirkungslos. Alison war fest entschlossen, das Baby zu behalten. Wahrscheinlich hielt sie Hartzell für eine zuverlässigere Einnahmequelle als das Theater. Angesichts ihrer unverhohlenen Drohung, ihn vor Gericht zu zerren, falls er sich weigerte, Unterhalt für das Kind zu zahlen – für einen Mann in seiner Position eine Katastrophe –, erklärte sich Hartzell schließlich zu großzügigen monatlichen Zuwendungen bereit und ließ dem Drachen im Voraus einen Scheck über eine Viertelmillion Pfund zukommen. Daraufhin verzog das Miststück seinen Schmollmund zu einem breiten Lächeln, und was noch wichtiger war: Hartzells Ruf wurde nicht in Mitleidenschaft gezogen.
In Lucys ersten fünf Lebensjahren ließ Hartzell ihr von einer Sekretärin jede Woche eine Karte aus dem Big Apple schicken, mit ein paar fröhlichen Worten von Daddy, die gar nicht von ihm stammten. Einmal im Monat suchte die Sekretärin irgendein Spielzeug aus und schickte es an seine Tochter. Hartzell verstand gar nicht, von welchen Problemen die Leute immer redeten: Vater zu sein war ein Kinderspiel. Als Lucy sprechen konnte, begann er damit, sie – nach ein oder zwei Gläsern Dom Perignon – einmal wöchentlich anzurufen.
Ja, Lucy war die Schwachstelle in seinem Panzer. Eine Schwäche, die ihn in einem ganz bestimmten Moment erfasst hatte: als sie ihn am Telefon zum ersten Mal »Papa« nannte. Er lag die halbe Nacht wach und dachte an sein kleines Mädchen, und als er sich zwei Wochen später endlich von seiner Arbeit losreißen konnte, flog er nach London, um Lucy zu besuchen.
Mit sechs Jahren verbrachte Lucy zum ersten Mal den Sommer bei Hartzell. Brillant , dachte er sich, als er Lucy – die noch gewinnender lächeln konnte als Shirley Temple – zu verschiedenen Wohltätigkeitsveranstaltungen mitnahm und sich als liebevoller Vater präsentierte. Die Geschäfte liefen prächtig. Mit zehn kam Lucy für immer zu ihm, nachdem ihre Mutter in London geheiratet hatte. Er engagierte für sie die besten Kindermädchen und Privatlehrer. Sie absolvierte das Trinity College und studierte inzwischen Tanz an der renommierten Juilliard School.
Doch nun, da die amerikanische Finanzindustrie in einer schlimmen Krise steckte, wurde Hartzell von schrecklichen
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