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Der Schacht

Der Schacht

Titel: Der Schacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David J. Schow
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Bild wieder aufzuhängen.
    Der Nagel, an dem das Bild gehangen hatte, war verschwunden. Genau wie das Loch, in dem er gesteckt hatte. Edgar hatte sich neun Jahre lang die Topografie der schlampigen Farbschicht eingeprägt, die Fergus, der dämliche Affe, auf die Wand geklatscht hatte. Die Pinselstriche auf der Wand fingen in bestimmten Mustern Staub und Dreck und Schmutz ein. Diese Muster waren jetzt verschwunden. Es war, als hätte das Gebäude seine Wand vergessen und sich dann nicht mehr richtig an sie erinnert.
    Er fühlte sich an sein eigenes Alter erinnert. Er war ein alter Mann, er war allein, er hatte sich so heftig bemüht, eine Würde aufrechtzuerhalten, die ihm wichtig war … und jetzt ging es mit ihm bergab.
    Ein gewöhnlicher alter Mensch hätte aus der Würde des Alters eine Waffe gemacht, die er den spöttischen Mienen jüngerer Generationen entgegenschleudern konnte. Für Edgar war so etwas nicht wichtig. In gewisser Weise genoss er seine Rolle als der Grobian des Kenilworth. Er legte keinen Wert darauf, auf die schäbige, heruntergekommene Bewohnerschaft des Kenilworth einen guten Eindruck zu machen. Zweifellos hielten sie ihn alle für einen senilen alten Knacker. Er würde derjenige sein, der zuletzt lachte.
    Aus dem Krieg kannte er noch die Maxime, dass man den Feind dann am besten schlagen kann, wenn man ihn dazu kriegt, einen zu unterschätzen. Was kümmerte ihn schon der Eindruck, den er auf diesen Haufen von Ausländern, Junkies und Pennern machte, wie er sie bei dieser kleinen Gestapo-Aktion gestern erlebt hatte?
    Diese Mrs Rojas, das war eine nette alte Dame gewesen. Jahrelang hatte Eddie sie nur als »207« gekannt. Schließlich hatte er seine eigene Regel gebrochen und sie in der Waschküche angesprochen. Sie war so wie er: aufrecht, zäh, eine Überlebende. Er hatte sogar vorgehabt, sich ihr in der nächsten Zeit einmal in seiner guten Seidenkrawatte zu präsentieren, als sie plötzlich aus dem Gebäude verschwand. Noch eine von den netten Leuten, die durch den Lauf der Zeit und den unvermeidlichen Niedergang des Kenilworth zur Seite gedrängt worden waren. Am einen Tag hatte sie noch in dem Appartement über ihm gewohnt, am nächsten war sie spurlos verschwunden, ohne eine Notiz oder eine Ankündigung. Edgar hatte das in dem Moment vermutet, als der Klang des Gebäudes von oben eine andere Färbung annahm; diese Geräusche passten nicht zu ihr. Viele von den Geräuschen, die Edgar hören konnte oder bei denen er sich einbildete, sie zu hören, waren verwirrend oder ließen sich nicht zuordnen. Aber er wusste, dass sie nicht mehr da war. Weggezogen in eine der wenigen Möglichkeiten, die sich ältlichen Damen mit bescheidenen Einkommen bieten, um der totalen Armut zu entgehen oder um ihre Adresse ein wenig respektabler aussehen zu lassen.
    Verdammt. Die Rundungen in ihrem Kleid waren auch nicht von schlechten Eltern gewesen.
    Er bog seinen Rücken durch, als er zum Badezimmer ging, und es gelang ihm, ein paar der Wirbel wieder einrasten zu lassen. Er musste sich jetzt ein paar Spritzer Wasser über das Gesicht laufen lassen, die Augen ausspülen und die Unruhe in seinem Herzen in den Griff bekommen, bevor es noch heftiger schlug und gefährlich wurde. Es gab eine rationale Erklärung für die Sache mit dem Sofa und der neuen Fläche an der Wand. Das war der Vorteil, den das Alter und das Warten und die Ausdauer einem bescherten – man hatte die Zeit, allem auf den Grund zu gehen.
    Verdammt, dachte er, wenn ich den Grund von allem kennen würde, dann wäre ich ein Teenager.
    Fußtritte von oben. Der neue Mieter, der Kerl aus dem Taxi, machte sich nachtfertig. Gestern war er die ganze Nacht aufgeblieben.
    Edgar überlegte, ein kurzes Bad zu nehmen, um den Schweiß aus des Poren und den Kopf klar zu bekommen, entschloss sich dann aber dagegen. Er hatte nicht vor, so weit von seiner tägliche Routine abzuweichen.
    Wie bei den anderen Wohnungen, die sich in der nordöstlichen Ecke des Gebäudes drängten, wurde auch Edgars Badezimmer durch ein kleines Fenster belüftet, das auf einen Luftschacht hinausging. Er hatte seines schon vor Jahren abgeklebt und Fergus so lange in den Ohren gelegen, bis das hutzlige Wesen mit einer Silikonspritze und einem Eimer seines unerschöpflichen Vorrats an weißer Latexfarbe vorbeigekommen war. Von Anfang an hatte Edgar den kranken, chemischen Gestank des Schachtes gehasst. Wenn er frische Luft haben wollte, konnte er die auch im Wohnzimmer kriegen. Er

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