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Der Schacht

Der Schacht

Titel: Der Schacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David J. Schow
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bewohnte eine Eckwohnung, und wenn er beide Fenster öffnete, dann hatte er mit der Hilfe von Mutter Natur die Wohnung innerhalb von zwei Sekunden gelüftet und brauchte das hässliche kleine Bullauge im Badezimmer nicht – ein überflüssiges Teil, bei dem er aufpassen musste, dass er es nicht mit dem Ellbogen zerbrach, während er unter der Dusche stand.
    Draußen lief der Wind zur Höchstform auf. Der wehende Schnee versuchte die Fensterscheiben einzudrücken und machte dabei ein Geräusch wie Salz, das auf Alufolie rieselt.
    Als er aus dem Badezimmer kam, bemerkte er einen Riss in der Wand, an der bis heute Morgen das Bild von Mae Lynn gehangen hatte. Er war noch nicht da gewesen, als Edgar nach dem fehlenden Nagelloch gesucht hatte. Die Wände geben nach, dachte er. Draußen tobte ein Blizzard. Stürme konnten sicherlich Innenwände verrücken. Es war ein brauner Haarriss, der sich von der Fußleiste an im Zickzack fast einen Meter hoch erstreckte. Es war wohl das Beste, ihn bis nach dem Frühstück aus den Gedanken zu verbannen und dann den Glöckner von Kenilworth dazu zu zwingen, den Riss zu reparieren … während Edgar als grantiger alter Mann dabeistand und gerade unverschämt genug war, um die ganze Sache ein bisschen interessant zu machen. Hehe.
    Während er sich bettfertig machte und sich sein zukünftiges Benehmen vorstellte, zog sich der Riss einen weiteren halben Meter die Wand hoch. Er machte dabei ein wisperndes Geräusch wie zerreißendes Brot. Am Ende gabelte er sich in zwei Ausläufer und spuckte eine Wolke Kalkstaub aus.
    Edgar zuckte zusammen, aber er hatte sich sofort wieder gefangen. War das ein Erdbeben? Irgendeine Erschütterung, unter der das Gebäude erzitterte? Konnte der Sturm draußen so heftig sein?
    Er sah genauer hin und fuhr das frische Ende des Risses mit einem Finger ab. Er war feucht. Zwei Blutstropfen liefen in verschiedene Richtungen seine Handfläche hinab.
    Die Logik sagte ihm, dass eines der Abflussrohre über ihm wieder geplatzt war. Sie waren schon einmal zugefroren, geplatzt, und das Abwasser war in die darunterliegenden Wände gesickert. Er hatte sich nicht den Finger aufgeschnitten. Dann erinnerte er sich daran, dass das Kind, das im dritten Stock verschwunden war, bei seinem Verschwinden eine Blutlache hinterlassen hatte … und seitdem nicht wieder aufgetaucht war. Nur das Blut hatte eine Spur gelegt.
    Er verbannte den Gedanken an herannahende Senilität. Wenn er nur ruhig zusammenfügen konnte, was sich unter seinen hervorragenden Augen abspielte, dann brauchte er keine Angst haben, aufgrund von mangelnder Beschäftigung schwachsinnig zu werden. Man bekam nur dann Angst vor Gebrechlichkeit und Verkalkung, wenn man zu viel Zeit hatte, herumzusitzen und darüber nachzudenken. Aber er war jetzt hellwach, sein Verstand arbeitete schnell und analytisch.
    Während Edgar sich noch selbst beglückwünschte, schwoll die Mitte des Risses an wie eine verstopfte Vene, eine bluttriefende Hand streckte sich aus der Wand und packte ihn an der Kehle. Der Griff war nicht sehr freundlich.
    Er gab ein gurgelndes Geräusch von sich. Bevor er schockiert nach Luft schnappen konnte, riss die Hand ihn nach vorn und brach ihm das Nasenbein an der immer noch massiven Wand. Er fühlte einen scharfen Schmerz, als ein zugefeilter Fingernagel sich nah am Schulterblatt in seinen Hals bohrte, bis zum ersten Glied einsank und einen Springbrunnen arteriellen Blutes freisetzte, das unterhalb seines Kinns herausspritzte und sich mit den Rinnsalen vereinigte, die aus der Wand liefen, wo der Spalt sich jetzt verbreiterte wie zerreißender Stoff. Auf dem Kalk mischte sich Rosa mit Tiefrot, und der Boden zu Edgars Füßen war bespritzt, als sei ein blutiger Schwamm ausgewrungen worden.
    Finger drängten sich durch den Spalt, fanden Halt und zogen den Rest hinterher. Die Hand, die Edgars Adamsapfel zusammenquetschte, hatte einen Griff wie ein Bulldozer. Edgar war verletzt und blutete stark. Der Tod war ihm gewiss, wenn er herumzappelte wie irgendein Trottel in einem billigen Monsterfilm. Er musste die Situation irgendwie ändern.
    Er stemmte seine Arme gegen die Mauer und schob sich nach hinten. Mit Schmerzen erkaufte er sich seine Freiheit. Der Arm kam ein Stück weiter aus der Wand, aber er fühlte, wie sich der Griff löste.
    Er erkannte einen Ellbogen in einer Lederjacke. Die Nieten schimmerten wie Paradiesäpfel durch den blutigen Film. Er ballte seine Schlaghand und hämmerte in die Armbeuge,

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