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Der Schacht

Der Schacht

Titel: Der Schacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David J. Schow
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sich seine Beute zu holen. Er begann, die Menschen, die sein Leben bevölkerten, als biologische Unfälle zu sehen. Gefüllte Hautsäcke mit zu vielen Fabrikationsfehlern.
    Er sah zu, wie der junge Mann den Taxifahrer bezahlte und das Gebäude durch den Kentmore-Eingang betrat. Der Junge hatte eine Rolle bei den dramatischen Ereignissen des letzten Wochenendes gespielt. Polizeiwagen, Nazimethoden, Geschrei und Chaos. Edgar dachte, dass er heutzutage nicht mehr jung sein wollte. Das Leben war für die Jugend von heute so viel schwieriger. Sie brachten sich viel häufiger um als früher.
    Edgar hielt sich stockgerade, seine Haltung ein Relikt seiner Militärvergangenheit. Seine Hose über dem Bauch gegürtet, sein Hemd sauber, gestärkt und ordentlich unter den Gürtel gesteckt. Er trug Pantoffeln, aber gepflegt, mit sauberen Socken. Er achtete auf sein Äußeres. Man sah so viele verwahrloste alte Leute, und die Vermutung lag dann nahe, dass das Alter einen nachlässig, vergesslich und schlampig machte. Er rasierte sich jeden Morgen mit einem Rasiermesser, und er schnitt sich dabei nie. Er putzte sich jeden Abend sorgfältig die Zähne. Seit er in der Armee gelernt hatte, seine Schuhe auf Hochglanz zu polieren, hatte er das nie verlernt. Es war eine Fähigkeit, die es sich zu bewahren lohnte, gerade weil sie heutzutage aus der Mode gekommen war. Ein guter Spuckeglanz ließ sich einfach mit nichts vergleichen. Das Äußerste, was man über seine Garderobe sagen konnte, war, dass sie fadenscheinig war. Seine Pension reichte nun mal nicht zu mehr, selbst bei seinen frugalen Bedürfnissen. Und Hemden und Hosen hielten heutzutage auch nicht mehr so lange. Er konnte das alles sehr wohl sehen. Seine Augen waren schließlich immer noch hervorragend.
    Edgars Einschlaf- und Aufstehrituale hatten sich so weit verfeinert, dass sie auch noch die zusätzliche Zeit ausfüllen konnten, die er dadurch gewonnen hatte, dass er allein lebte. Statt nur auf den Fernseher zu starren und darauf zu warten, dass entweder die nächste Rentenzahlung oder Gevatter Tod an die Tür klopfte, war er fast grüblerisch introspektiv geworden. Er versuchte sich stärker auf die Welt um ihn herum zu konzentrieren, größere Zusammenhänge zu sehen. Er hatte sich auf den jahreszeitlichen Rhythmus des Gebäudes eingestellt, in dem er lebte. Er lauschte auf die Klänge, die das Gebäude von sich gab. Er konnte die feinen Nuancen in den Korridoren wahrnehmen, die Geräusche, die das Mauerwerk machte, wenn es sich im Winter zusammenzog oder im Sommer ausdehnte, die weichen Geräusche der ausgetrockneten Steine beim ersten Frühlingsregen.
    In der letzten Zeit benahm sich das Gebäude merkwürdig.
    Die Eindrücke, die Edgar registrierte, schienen irgendwie verzerrt, versetzt mit verborgenen Informationen wie einzelne Fetzen eines zu weit entfernten Radiosignals. Es erinnerte ihn daran, wie er sich fühlte, wenn er seine Medikamente zu früh nahm oder zu viel Kaffee trank – die Spannung im Kiefer, das Pulsieren in den Schläfen, die Frustration sinnloser Erregung. Das Gebäude wirkte auf ihn, als stände es unter Strom. Aufregung vielleicht. Vielleicht auch Paranoia.
    Er überlegte, ob die Zentralheizung einen Defekt haben könnte, der die Luft verseuchte und die Bewohner langsam vergiftete, sodass sie seltsame Halluzinationen bekamen. Gerade erst heute Morgen, während seine treue Kaffeemaschine brodelte und spuckte, hatte er festgestellt, dass das Sofa um fast fünfzehn Zentimeter von der Südwand weggerückt war. Es war eigentlich nur ein gebrauchter Zweisitzer, aber für Edgar und seine Fernsehzeitschriften und die Knabbereien war es perfekt. Er sah sich diese Anomalie an und beschloss, dass er wohl etwas unachtsam aufgestanden war. Später stellte er fest, dass die Wand um die gleiche Entfernung von der monströsen Spirale des Heizköpers weggerückt war, die mit sechs rostigen Eisenbahnbolzen auf einer Stahlplatte im Fußboden befestigt war. Das Sofa war nicht nach vorn verschoben worden – die Wand hatte sich zurückgezogen.
    Edgar hatte ein einzelnes gerahmtes Bild an der Wand hängen, ein verblichenes Studioportrait von Mae Lynn. Es war heruntergefallen und lag mit dem Bild nach unten auf einer Fußbodenfläche, die am Tag zuvor noch nicht da gewesen war. Zum Glück war das dünne Glas des Rahmens nicht zerbrochen. Er hob es auf, hielt kurz inne, um ein paar Erinnerungen an seine erste und liebste Ehefrau wachzurufen, und machte dann Anstalten, das

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