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Der Schacht

Der Schacht

Titel: Der Schacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David J. Schow
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sie mich verlassen. So ungefähr jedenfalls. Vielleicht ist das der Grund: Wenn man verlassen worden ist, statt selbst jemanden zu verlassen.«
    »Männlicher Stolz ist manchmal ganz schön schäbig«, sagte Jamaica. »Das macht einen dumm. Man tut dann dumme Sachen.«
    »War mein Fehler.« Jonathan zuckte die Achseln. Er musste damit aufhören. »Ich habe gar nicht versucht, neue Erfahrungen zu gewinnen, die ich vor die Erinnerungen an sie schieben konnte. Etwas Frisches kann den Schmerz zwar nicht völlig zur Seite schieben, aber es bildet einen Raumteiler, sodass man ihn nicht immerzu sehen muss. Schließlich wurde es mir zu viel, und ich ergriff die Gelegenheit und kam nach Chicago.«
    »Und jetzt sieh dir an, was aus dir geworden ist!« Sie lächelte, und damit fühlte er sich besser. Gewöhnlich hasste er es, wenn man sich über ihn lustig machte.
    »Und so bin ich in diesem Palast gelandet.« Er schwenkte eine imaginäre Groucho-Zigarre. »Und nun, meine Liebe, wie lautet deine Geschichte?«
    Sie war aufgestanden und an ihn herangerückt.
    »Jonathan, ich glaube, du bist im Grunde ein netter Kerl. Das glaube ich wirklich. Vielleicht mit falschen Ideen und übertrieben reaktionär, aber im Grunde ein netter Kerl. Du lässt dir von den Leuten zu viel gefallen. Du nimmst miese Sachen zu persönlich. Du denkst zu viel über deine Gefühle nach, statt wirklich welche zu haben.« Sie runzelte die Stirn. »Und ich glaube, du hast mir gerade deine eigene Version der dämlichsten Frage der Welt gestellt: Was macht ein nettes Mädchen wie du … und so weiter.«
    »Oh. Scheiße. Entschuldigung.« Er wurde rot. Das war wieder niedlich.
    »Entschuldige dich nicht. Verdammt, das ist eine andere Regel, die du noch lernen musst. Hör auf, dich jedes Mal zu entschuldigen.« Sie stand hinter ihm und massierte seine Nackenmuskulatur. Sie hatte wirklich versucht, ihn aufzumuntern, ohne sich dabei zu verbiegen oder zu lügen. Was zum Teufel machte sie da überhaupt?
    »Wir verschwenden Zeit«, sagte sie. »Was steht als Nächstes an?«
    »Ich wüßte da etwas.« Er schüttelte abwägend den Kopf. »Aber das, meine Dame, muss warten, bis ich meine Klettertour in die Annalen der Menschheitsgeschichte beendet habe.«
    Er war so … Jamaica suchte nach einem Wort … so ernst in ihrer Gegenwart. Gute Güte, wurde er wirklich um so viel zugänglicher nach dem bisschen Ficken? Er war rücksichtsvoll, zuvorkommend und, wenn man ihm eine Aufgabe stellte, entschlossen und zielstrebig. Dieser fast Fremde war im Begriff, einen schmierigen, eisigen Schacht herunterzuklettern, um ihrer aller Leben zu retten, nur weil sie ihm gesagt hatte, ihre Leben müssten gerettet werden.
    Er zog seinen Parka aus und stattdessen zwei Sweatshirts über sein T-Shirt – dadurch war er beweglicher – und steckte seine Hosenbeine in die Stiefel, bevor er sie zuschnürte.
    Aus einer der Schubladen in der Küche holte er ein paar Kerzen und ein Heft Streichhölzer, riss einen Meter Klebeband ab und rollte es zu einem Seil zusammen, das er durch den Griff des Scheinwerfers und durch seinen Gürtel zog.
    »Nenn mich Tensing Norkhay.«
    Er hatte immer noch die gefütterten Handschuhe von Bash, und streifte sie über, bevor er versuchte, das Badezimmerfenster wieder aufzumachen. Es war so verzogen und verklemmt wie jedes andere Fenster im Kenilworth. Es reichte nicht, nur die Pappabdeckung herauszuschlagen. Er brauchte auch den zusätzlichen Platz, den der Fensterrahmen hergab. Er musste ein wenig Gewalt anwenden, dann gab es doch nach.
    Der fäkalartige Dreck lag auch auf der Fensterbank. Er war da zusammengescharrt, als hätte jemand seine Schuhe dort abgewischt.
    Die Füße der Badewanne waren nicht auf die Fliesen aufgesetzt, sondern gingen durch sie hindurch. Die Wanne war massiv und schwer genug, um einen zuverlässigen Halt zu bieten. Jonathans Konstruktion aus Elektrokabel sah aus wie eine außerirdische Form von Makramee. Er knotete das eine Ende um den Fuß der Badewanne, der dem Fenster am nächsten stand, und zog dann die Schnur Meter für Meter herum, damit sie sich nicht verhedderte. Eine Kakerlake, verbittert über diesem Eingriff in ihre Privatsphäre unter der Wanne, versuchte sich aus dem Staub zu machen. Jamaica zerquetschte sie, sobald sie ans Licht kam.
    Jonathan stand in der Wanne und klickte die Lampe an, dann streckte er Kopf und Schultern durch das Fenster. Die Dunkelheit verschluckte seine Atemwolken ein paar Zentimeter vor seinen Augen.

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