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Der Schacht

Der Schacht

Titel: Der Schacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David J. Schow
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Ein modriger Geruch stieg ihm in die Nase, hervorgerufen durch einen spürbaren Luftzug, der nach oben führte. Leichenstarre, die in Verwesung übergegangen war, gleichermaßen würzig wie ekelhaft. Nach dem ersten Schock war es nicht einmal so schlimm wie die süßlichen Ausdünstungen des Blutes, die aus der Wand nebenan gekommen waren.
    Er wischte mit den Handschuhen über das Fensterbrett. Er hatte sich schon mit dem Gedanken abgefunden, bei dieser Unternehmung dreckig zu werden.
    In dem Licht erschienen die verrosteten Stahlträger, als klebe an ihnen eine ölige Flüssigkeit. Hängende, zähe Tropfen schillerten in dem juwelenartigen Grün des Moders, in der Farbe von Botulin oder Nuklearabfällen. Die Wand hinter dem Fensterbrett war glitschig. Der Abstieg würde schwierig werden.
    »Du hast nicht zufällig eine ausklappbare Feuerleiter in der Handtasche?«
    »Sorry, Liebling. Ich könnte mich natürlich vor dem Baumarkt in Oakwood postieren, bis die aufmachen, und den Aushilfsverkäufer so lange bezirzen, bis er mir eine leiht. Aber es ist jetzt fünf vor drei morgens, und um vier Uhr wäre ich gern für immer aus dieser Bude verschwunden, wenn du verstehst, was ich meine.«
    Die Vorstellung nahm Jonathan den Atem. Ein paar Tausend Dollar in der Tasche und mit Jamaica verschwinden. Abenteuer und Aufregung. Vielleicht Kalifornien.
    »Das sind mehr als sieben Meter.« Das Ende der Schnur reichte nicht auf die Oberfläche der Brühe, die unten in dem Schacht stand. »Ich sehe Wasser und etwas, das eine schwimmende Plastiktasche sein könnte. Und Dreck. Es riecht nach toten Ratten. Eine ganze Familie von toten Ratten. Mehrere Generationen.«
    Das ließ ihn wieder an den verschwundenen Velasquez-Jungen denken. Jonathans Nase hatte nicht gerade das Bedürfnis nach totem Baby in Schlammmarinade.
    Jamaica hatte seine Gedanken gelesen: »Gott, Jonathan, du glaubst doch nicht, dass der Junge …?«
    »Doch, ich glaube«, sagte er verbittert. »Aber das ändert nichts an unseren Reiseplänen, oder? Und wenn ich ihn da unten finde, völlig aufgequollen oder mit einem abgebrochenen Brett im Schädel, was sollen wir dann machen? Die Polizei rufen? Das geht wohl nicht: Oh, Sie da, Herr Bulk? Wir waren gerade dabei, mitten in der Nacht nach einer Ladung Kokain zu suchen, als wir auf dieses dahingeschiedene Individuum gestoßen sind. Nein, mehr wissen wir auch nicht. Können wir jetzt nach Hause gehen? «
    »Beruhig dich. Immer die Ruhe bewahren. Wahrscheinlich ist da gar nichts.«
    Sie konnten sich jetzt streiten, aber das war überflüssiger Luxus. Sie waren schon so weit, dass sie jetzt nicht mehr zurückkonnten. Kriminelle riefen nicht die Polizei zur Hilfe, genauso wenig wie Hunde in Hundescheiße traten.
    Er schaltete die Lampe aus und ließ sie an seinem Gürtel baumeln. Er würde den Abstieg im Dunkeln machen, da sonst die wenn auch unwahrscheinliche Möglichkeit bestand, dass irgendein verrückter Nachbar ein wild schlingerndes UFO-Licht sehen würde, während er gerade mitten in der Nacht ein Bad nahm. Wenn der Boden des Schachtes tiefer als der Erdboden war, dann würde er die Tasche mit einer Hand greifen müssen, während er sich mit der anderen an dem Kabel festhielt. Das war nicht gerade zu empfehlen. Wenn man sich abseilt, dann geht jeder Meter auf die Arme und Beine und Muskeln, und da kann man nicht einfach anhalten und sich ausruhen. Er rechnete damit, dass die Anstrengung ihn warm halten würde.
    Jonathan stellte sich das Kenilworth als lebendes Wesen vor, längst über den Zenit hinaus, aber immer noch mit einem eigenen Willen. Ihm fehlte Bewegung; die Bewohner verkrochen sich oder gingen nicht mehr aus oder schliefen einfach; eine müßige Koexistenz aus Angst und Stolz. Jede Aufregung war hier so etwas wie eine Verdauungsstörung. Ein Ehestreit war ein Furz, eine zuschlagende Tür ein Muskelkrampf. Zumindest würde das den rhythmischen Herzschlag erklären, den er offenbar als Einziger hören konnte.
    Er dachte an sich als einen kleinen Springteufel, der auf der Zunge des Gebäudes saß und im Begriff war, die Speiseröhre herabzurutschen. Er dachte an die schwarze Katze als einen wandernden Parasiten, eine gutartige Infektion, die durch die Adern im Blutkreislauf des Gebäudes wanderte. Sie könnte in eine von diesen nutzlosen Eisboxen gekrochen sein und war dann aus einem blutenden Loch in der Wand in einem anderen Stockwerk wieder herausgekommen. Diese Öffnungen kamen und gingen wie Blutergüsse

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