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Der Schacht

Der Schacht

Titel: Der Schacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David J. Schow
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gewesen, dass sein BMW nicht in seiner eigenen baumgesäumten Auffahrt gestanden hatte, als das Carport zusammenbrach.
    Das Rapid-O’Graphics-Haus war in dieser Wohngegend von außen nicht als Bürohaus erkennbar. Es versuchte, sich einzufügen. Die Küche im Erdgeschoss war ein Chaos durch all die Getränke, die die Angestellten bei der Arbeit bevorzugten. Es gab eine Restaurantkaffeemaschine mit drei Töpfen – normal, entkoffeiniert und heißes Wasser für die über zwanzig Teesorten. Da war ein Kühlschrank voller Getränke darunter; einige Flaschen Freixenet für die häufigen Anlässe nach Feierabend oder für Geburtstage. Eine Kühltruhe war voll mit Weight-Watcher-Mahlzeiten, Pizzen und diversen Mikrowellengerichten. Niemand bei Rapid O’Graphics ging über Mittag essen. Die Fast-Food-Läden in nächster Nähe servierten alle den gleichen Fraß, und wer wollte sich schon freiwillig der weißen Hölle da draußen entgegenstellen?
    Im ersten Stock waren drei der Zimmer mit Zeichentischen, Akten und Lagerbeständen in Metallregalen vollgestopft. Im Keller gab es eine Dunkelkammer mit einer Drehtür, die als Lichtschleuse fungierte, und einen Raum mit Belichtungs- und Kopiergeräten. Capra schaffte gerade Platz für eine monströse Kopiermaschine, die er zu einem Spottpreis erworben hatte. Das Wohnzimmer war durch diverse Sitzgruppen in ein multifunktionales Konferenzzimmer, Ruheraum und Entspannungscenter umgewandelt worden. Eine Offsetdruckmaschine war in einem Werkzeugraum untergebracht, der früher einmal für Gartengeräte benutzt worden war, bis Capra ihn wetterfest gemacht und Radiatoren hineingestellt hatte.
    Jedes zugängliche Wandstück war mit Papier bedeckt. Jonathans erster Eindruck war der einer chaotischen Dekoration gewesen, zerrissene Partygirlanden durchmischt mit den Resten von Tickerstreifen, um für mehr Chaos zu sorgen. Es war genug Papier an die Wände geheftet, um damit eine Neuauflage eines kompletten Satzes Chicagoer Telefonbücher zu ermöglichen. Aussrisse aus Zeitungen, Cartoons, Entwürfe, Fahnenabzüge, Streifen und Schnipsel. Filme, Fotos, Landkarten. Graffitti, Poster, Plakate, Memos und Dienstanweisungen. Sie hingen an Heftzwecken, Nadeln, Cocktailstäbchen, sogar an Dartpfeilen. Man konnte sich theoretisch vor jede beliebige Wand setzen und stundenlang lesen.
    Jonathan mochte die Atmosphäre. Capras Laden war eine Oase der Vernunft in einer Welt der Bürokratie: schrill, gemütlich und irgendwie subversiv. Capra war ein Produkt der Sechziger, dessen Augen schon damals – und das war kein leeres Lob – auf die Neunziger gerichtet gewesen waren.
    Jonathan hatte seinen Arbeitsplatz neben einer völlig unnötigen Klimaanlage, die den Blick auf ein Fenster verstellte. Sobald er sich eingerichtet und alle seine Materialien so umgeräumt hatte, dass sie seiner Reichweite und seinem Temperament entsprachen, gewann er schnell den Eindruck, er könnte sich bei Capra heimisch fühlen. Sein Stuhl war so eingestellt, dass er seiner Größe entsprach. Die Arbeitsfläche war in dem Winkel gekippt, in dem er am besten arbeiten konnte. Bash hatte ihm einen Kaffeebecher geschenkt, eine Gary-Larson-Tasse mit zigarettenrauchenden Dinosauriern. Sie hatte ihren Stammplatz auf einem kleinen selbst gebastelten Regal gefunden, das Jonathan neben der Klimaanlage angebracht hatte. Da hockte auch der lahme Pterodaktylus. Jonathan hatte die Lüftungsschlitze der Anlage mit Klebeband zugeklebt, damit der eisige Zug von draußen nicht mehr durchkam. Als er an seinem dritten Arbeitstag den Laden betrat, stellte er fest, dass jemand einen blauen Brontosaurus auf dem Kasten abgestellt hatte, mit einem Post-it-Zettel daneben, der eine Sprechblase darstellt: SAG MAL GUTEN TAG, DINO BOY.
    Das war Jessica gewesen, die in der Dunkelkammer unter ihm arbeitete. Sie besaß einen gewaltigen Schopf lockiger schwarzer Haare, eine makellos kaffeebraune Haut und Gesichtszüge, deren Symmetrie Jonathan verriet, dass in ihrem Genpool auch die eine oder andere orientalische Spur vorhanden sein musste. Sie trug immer hochhackige Schuhe zur Arbeit und hatte es sich schnell angewöhnt, Jonathan zur Begrüßung zu umarmen oder ihm im Vorübergehen freundschaftlich auf den Oberarm zu boxen. Wie Bash durchblicken ließ, hatte Jessica ihre Scheidungspapiere an ihrem vierzigsten Geburtstag bekommen, und seitdem war das Lächeln nicht mehr von ihrem Gesicht gewichen. Sie hatte den großzügigsten Mund, den Jonathan je gesehen

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