Der Schacht
so etwas antat.
Draußen hielt der Wind inne wie eine Meereswoge auf dem Rückzug und brandete dann frontal gegen das Gebäude und scheuerte es mit harten Schneekörnchen. Es war das Geräusch von Salz auf Stanniolpapier. Elvie vermeinte zu spüren, wie das Gebäude erschüttert wurde, wie sich die Fensterscheibe vor ihrer Nase nach innen bog. Sie nahm ein Taschentuch, spitzenbesetzt und mit Monogramm, das sie schon seit fast fünfundzwanzig Jahren besaß und das auch die gelbliche Farbe alter Textilien angenommen hatte. Sie rieb damit ein Guckloch in die Eisschicht, die das Fenster auf ihrer Seite bedeckte. Dahinter war nur Schwärze.
Sie ging mit den Augen näher an das Glas heran. Das Gestell ihrer Brille klickte an die Scheibe. Es hörte sich immer noch an wie Glas. Das Guckloch in der Mitte war immer noch völlig dunkel und zeigte nichts von dem, was Elvie sonst draußen sehen konnte – die Straßenlaternen, die aufgeschobenen Schneewälle, die darunter begrabenen Autos, gegen den Sturm geduckte Fußgänger, die verbissen ihre Haustiere Gassi führten, und auch die hart gefrorenen Kothaufen, die diese Tiere hinterließen. Schwarze Punkte, die zufällig auf einem glatten weißen Blatt hinterlassen wurden. Sie konnte die Häuser und Gebäude auf der anderen Straßenseite nicht sehen, die, wie sie wusste, dort hockten mit ihren albernen Schneebärten und ihren Eiszapfenkoteletten. Sie sah nur Schwärze. Das Guckloch kapitulierte schnell bei dieser Temperatur, und die Scheibe wurde von Frost zurückerobert, ein Auge, das umgehend seine Sehkraft verlor. Es war dort draußen extrem kalt heute Nacht.
Elvies tastende Finger suchten Antworten auf der Oberfläche des Glases. Sie könnte jetzt natürlich in Panik verfallen und es einschlagen. Dann wäre sie noch vor Morgengrauen erfroren. Sie könnte die Beherrschung verlieren, ein Telefon suchen und den Hausverwalter herbeizitieren … irgendwie. Er war ein Ausländer, dessen richtiger Name in ihrem Gedächtnis nicht gespeichert worden war. Er wäre bestimmt erfreut, den hysterischen Beschwerden einer alten Frau um diese Zeit nachkommen zu müssen.
Oder: Sie könnte diese seltsamen Vorfälle auf ihre eigene Art lösen, zu ihrer eigenen Zufriedenheit.
Bei der Scheibe des anderen Fensters war es nicht anders. Es war, als wäre die andere Seite der Fenster mit lichtundurchlässigem schwarzen Papier beklebt. Als sie die Eisblumen wegwischte, konnte sie nur das Spiegelbild ihres eigenen Gesichtes sehen. Ihre Augen verschwanden hinter den winzigen Fenstern ihrer Brillengläser. In ihrem Spiegelbild konnte sie genau die Umrisse ihres Schädels ausmachen.
Auf der anderen Seite des Raumes wurde der Fernsehfilm von den Spätnachrichten abgelöst. Der Geruch von Truthahnauflauf hing in der Luft, die stickig durch die Kochdämpfe war. Und durch Elvies Fenster konnte man nicht hindurchsehen, und es ließ sich auch nicht öffnen.
Sie verlor die Geduld damit, so am Fenster zu stehen. Ihr gewohnter Zeitplan war gestört worden. Es war schon über ihre Schlafenszeit hinaus. Und jetzt war auch der Punk nicht mehr da, der sie um vier Uhr morgens weckte. Sie würde vielleicht sogar ihren nächtlichen Toilettengang verpassen.
Elvie seufzte und machte dabei ein Geräusch wie ihr Boiler. Große Umwälzungen konnten so unbedeutend sein; winzigste Dinge konnten die Welt, in der sie lebte, aus dem Takt bringen. Das große Geheimnis des Lebens. Eine Widernatürlichkeit hatte sich vor ihren eigenen guten Augen ereignet. Es war erregend und aufregend, aber es war nichts, das nicht bis zum Morgen warten konnte, bis zum erhellenden Licht des Tages. Auch wenn ihre Wohnung sie zum Narren halten wollte, so ließ Elvie sich davon doch nicht anstecken. Ihr Verstand war der ihre. Ihre Identität war unerschütterlich.
Sie schaltete ihr uraltes, mit Röhren betriebenes Magnavox-Radio aus und bereitete sich auf ihr Bett vor.
Noch bevor ihr Kopf das Kissen berührte, war die Wohnungstür verschwunden. Es blieben die Formen einer Tür und eines Türknaufes, aber es gab keinen Eingang mehr, nicht einmal mehr eine Türspalte. Aus ihrem Bett heraus konnte sie keinen Unterschied bemerken. Vor allem jetzt nicht mehr, wo sie ihre Brille abgesetzt hatte.
Die Dielenbretter des Boden, verschmolzen miteinander, fügten sich zu einer glatten, ungebrochenen Oberfläche zusammen. Haarrisse wurden zu vertikalen Streifen an der östlichen Wand.
Hinter den alten Vorhängen verschwanden die Vorderfenster völlig und
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