Der Schädelring: Thriller (German Edition)
Macht. Sie schloss die Augen vor der Stärke seines roten Blicks und haute auf sein Gesicht ein.
Mehr Haut und Muskeln lösten sich und eine Stimme ertönte an ihrem Ohr. „Er besitzt dich, Hure“, und es war Sneads Stimme, die sie vor dreiundzwanzig Jahren kennen gelernt hatte.
Snead. Der Mann mit der Kapuze. Das Ungeheuer mit dem Messer.
Julia öffnete die Augen, aber nun war Walter über ihr. Seine Wangen brannten vor Hass und von seinen scharfen Zähnen tropfte Speichel. Seine Hände hielten sie noch kräftiger und grausamer fest, quetschten und zerrten an ihr. Das Gesicht schimmerte, die Gesichtszüge schwollen an und verwandelten sich in den enthaupteten Ziegenkopf ihrer Kindheit.
„Du gehörst mir, Judashure. Und ich nehme mir, was mir gehört.“
Sie schrie, als sich das finstere Tiergesicht auf sie hinunter senkte und mit seiner Zunge über ihre Lippen fuhr. Der übelriechende Atem drang in sie hinein und brannte sie von innen aus. Ihre Narben quälten sie und weckten die schrecklichen Erinnerungen, die schmerzlich durch ihren Körper zuckten. Sie stöhnte vor Ekel, als der fiebrige Körper dieser Kreatur sich gegen sie drückte.
„Julia?“
Walters Stimme klang von irgendwo hinter der Ziegenkreatur her. Aber Walter war in dieser Kreatur oder nicht? Er war ein Teil davon. Der Teufel.
Finger griffen nach ihren Fußgelenken und schüttelten sie. Sie schlug blind um sich.
„He!“ rief er erneut.
Sie öffnete die Augen. Keine Dunkelheit; die zwei roten Funken waren verschwunden; kein Ziegenkopf. Das Zimmer war von orangefarbenem Licht durchdrungen, das Feuer bis auf die Glut heruntergebrannt.
Walter stand auf der Leiter und schaute sie an. „Bis du okay? Du hast im Schlaf geschrien.“
Sie versuchte, den Alptraum wegzublinzeln. Sie spürte die Erinnerung an den höllischen Gestank noch immer in der Nase und ihr Körper fühlte sich warm an. „Gehörst du zu ihnen, Walter?“
„Pssst. Du hast nur schlecht geträumt.“
„Sag mir, dass du nicht zu ihnen gehörst.“ Sie zog die Decken zum Kinn hoch.
„Nein ich gehöre zu uns .“ Er klopfte ihr leicht auf das Bein. „Hier bist du sicher. Hier erwischen sie dich nicht.“
„Ich fürchte mich.“ Sie fühlte sich beinahe so hilflos und verloren wie ein vierjähriges Kind.
Die Leiter quietschte und er legte sich neben sie. „Alles wird gut“, flüsterte er.
Seine Arme legten sich um sie und sie nahm die Umarmung an. Sie kuschelte sich unter die Decke und schlief wieder ein. Dieses Mal verfolgte sie kein Unhold im Traum.
27
Die Morgendämmerung sickerte durch die kleinen Fenster. Der Sturm war vorüber. Julia ließ Walter schlafen und zündete ein Feuer an. Sie durchstöberte Walters Rucksack, fand einige Papiertaschentücher und ging ins Freie um auszutreten. Der Himmel war klar und Julias Atem verwandelte sich in weißen Dunst vor ihrem Gesicht.
Eine atemberaubende Aussicht begrüßte sie. Die Hütte stand auf einer Lichtung zwischen zwei Hartholzwäldern und hinter den Bäumen erhob sich ein glatter Fels. Der Bergkamm war der höchste Punkt in der Umgebung. In der Ferne rollten die blauen Berggipfel dahin wie die Wellen eines sanften Meeres. Die saubere, frische Luft weckte Julia vollends und sie genoss den Duft des Waldes.
Walter hatte Recht. Die Unholde konnten sie hier nicht erwischen. Dies war der letzte Außenposten, eine Burg, ein Ort, an dem Probleme und Gefahren nicht hingehörten. Die Wälder waren nicht bedrohlich, sondern bildeten Walle, die den Feinden den Zugang verwehrten. Hier draußen unter dem Himmel fühlte sie sich wie bedingt entlassen vom engen Gefängnis ihres Kopfs.
Sie ging zwischen den Bäumen hindurch in die Stille des Waldes. Ein graues Eichhörnchen jagte den Baumwipfeln entlang und sammelte seinen Wintervorrat. Als sie hinter einer Eiche niederkauerte, dachte sie an die vorhergehende Nacht. Walter war ihr erneut zu Hilfe gekommen; er war ihr eigener Ritter ohne Furcht und Tadel. Genau wie in den Gutenachtgeschichten, die ihr Vater erzählt hatte –
„Und was hat Vati sonst noch in deinem Bett getan?“ tönte die Stimme von Dr. Forrest wie aus dem Nichts.
Julia stand auf, zog die schlotterigen Jeans hoch, die sie von Walter ausgeliehen hatte, und eilte zur Hütte zurück. Sie befürchtete, dass noch weitere Stimmen aus den Schatten unter der Eiche und dem Hickorybaum schlüpfen könnten. Über dem östlichen Horizont zeigte sich die Sonne wie ein blutbeflecktes Eigelb. Einige blasse
Weitere Kostenlose Bücher