Der Schädelring: Thriller (German Edition)
für das es sich lohnt zu leben, einen Grund, am Morgen aufzustehen.“ Walter schaute ihr schließlich in die Augen. Sein Blick brannte und das Grau in der Iris war verschwunden, ersetzt durch ein leuchtendes Gold. „Und trotz allem den Glauben bewahren. Wenn diese Welt uns im Stich lässt, dann gibt es wenigstens die nächste.“
Julia wunderte sich, weshalb sie sich nicht vor seinem Zorn fürchtete. Anders als bei Mitchell richtete sich Walters Wut gegen etwas Größeres, etwas außerhalb seiner Reichweite. Wäre er ein Unhold, dann wäre er aufgrund seines Glaubens noch bedrohlicher, da dieser Glaube ein größeres Geheimnis berührte, das sie nicht verstehen konnte.
Walter richtete seinen Blick auf den dunklen Wald. „Wir schliefen in unserem Zelt im Wald oberhalb der Stadt. Ich wachte mitten in der Nacht auf und sie war verschwunden. Es war pechschwarz, der Mond war untergegangen und es waren fast keine Sterne zu sehen. Ich durchkämmte den Wald, um nach ihr zu suchen. Ich habe mich heiser geschrien. Es ist ein Wunder, dass ich nicht über eine dieser Klippen gefallen bin.“
Tränen glänzten auf Walters Wangen. Er wandte sich ab und fuhr fort. „Am Morgen fuhr ich über den Berg und holte Hilfe. Wir durchsuchten die Gegend eine ganze Woche lang. Fanden kein Zeichen von ihr. Es war, als ob der Erdboden sie verschluckt hätte.“
Julia wollte ihn anfassen, wollte seine Hand halten. Sie wurde jedoch nicht einmal mit ihren eigenen Gefühlen fertig und war kaum in der Lage, jemandem Trost zu spenden. „Hast du eine Ahnung, was geschehen ist?“
Nach einer langen Pause, in der Julia das Zirpen der Grillen hörte, sagte Walter, „Ich nahm an, dass sie in der Nähe war. Sie hatte ihre Schuhe im Zelt gelassen. Am folgenden Tag fanden sie einige Fußabdrücke. Es gab jedoch auch andere Fußabdrücke und es wurde sehr verwirrend. Die Hunde nahmen ihre Fährte für eine kurze Zeit auf, dann verlor sich die Spur jedoch in einem Bach. Auch wenn sie nachtgewandelt hätte, wäre sie im kalten Wasser aufgewacht.“
„Es tut mir Leid, Walter.“
„Es ist nicht dein Fehler.“
„Ich weiß, aber –“
„Vergiss es“, unterbrach er sie. „Das ist schon lange her. Wenn etwas Schlimmes geschieht, dann kannst du entweder erstarren wie diese Uhr dort, oder du kommst darüber hinweg. Sie ist in Gottes Händen. Vielleicht ist es besser so.“
Darüber hinwegkommen. Ging es Walter gleich wie ihr? Lebte er nur halbwegs? War ein Teil von ihm vor Jahren tödlich verletzt worden? Selbst sein Christentum konnte den Schaden nicht beheben.
Julia faltete die Arme vor der Brust. „Du hast mir nicht die ganze Geschichte erzählt.“
„Es gibt keine Geschichte“, sagte er. „Die meisten Leute in der Stadt glauben, ich hätte sie umgebracht. Weißt du, wie das ist, wenn man ständig argwöhnische Blicke im Rücken spürt, wie wenn jemand einem immer aus den Schatten beobachtet?
Ja, Julia wusste sehr wohl, wie das war. Sie war das Aushängeschild der Panik und der Paranoia.
„Tut mir Leid, dass ich dich damit belästigt habe. Du brauchst nicht auch noch meine Probleme. Schließlich bist du es, bei der eingebrochen wurde.“
„Danke, dass du auf mich aufgepasst hast. So kann ich ruhiger schlafen.“
„Hast du den tödlichen Baseballschläger in der Nähe?“
„Ich bin auf alles vorbereitet.“
„Ich werde für dich beten.“ Er winkte ihr zu und ging. Julia schaute die Uhr und die Baseballkarten an und eilte ihm nach.
Von der Tür aus rief sie, „Sag mir, wenn ich was für dich tun kann –“
Er war schon weg, verschwunden im Dunkeln. Sie hörte den Anlasser des Jeeps.
„Sag’s mir einfach“, flüsterte sie.
Sie dachte an seine letzten Worte und suchte nach einer Doppelbedeutung. Vielleicht wollte er für sie beten, um sie von ihm abhängig zu machen. Hätte sie den Mut, würde sie Gott selbst fragen. Sie fürchtete sich jedoch vor einer möglichen Antwort.
Sie schloss die Tür hinter sich ab.
23
Das Telefon weckte Julia vor dem Morgengrauen. Sie drehte sich um, trat mit den Füßen gegen die Wolldecken und war einen Moment lang in einem eigenartigen Traum gefangen, in dem sie lebendig begraben wurde. Das Bett war feucht vor Schweiß. Sie blinzelte zur Weckuhr hinüber, erinnerte sich dann, dass sie im Abfallkübel lag.
Sie tastete nach dem Mobiltelefon auf der Kommode und warf es beinahe zu Boden, bevor sie es schließlich ans Ohr hielt. Nachts kamen nur wichtige Anrufe,
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