Der Schatten des Folterers
Die Turmkammer unter dem Dach birgt die Kanonen, die – soweit erhalten – wir von der Zunft zu bedienen haben, sollte die Zitadelle einem Angriff ausgesetzt sein.
Die wirkliche Arbeit unserer Zunft geht allerdings weiter unten vonstatten. Der Keller beherbergt den Vernehmungssaal; darunter und somit außerhalb des eigentlichen Turmes (denn der Vernehmungssaal bildet das tiefste Geschoß des ursprünglichen Baus) erstreckt sich das Labyrinth der Oubliette. Dieses Verlies umfaßt drei benutzbare Etagen, die durch ein zentrales Treppenhaus zu erreichen sind. Die Zellen sind schlicht, trocken und sauber, ausgestattet mit einem Tischchen, einem Stuhl und einem schmalen, in der Mitte am Boden befestigten Bett.
Die Lampen der Oubliette sind uralt und brennen angeblich ewig, obschon inzwischen einige erloschen sind. Im düsteren Zwielicht dieser Korridore waren meine Gefühle an diesem Morgen nicht düster, sondern freudig – hier würde ich wirken, sobald ich Geselle wäre, hier würde ich die alte Kunst ausüben und mich zum Rang eines Meisters emporarbeiten, hier würde ich das Fundament dafür legen, den ehemaligen Ruhm unserer Zunft wiederherzustellen. Schon die Luft dort wickelte mich ein wie ein Tuch, das an einem rauchlosen Feuer gewärmt worden war.
Wir hielten vor einer Zellentür an, und der diensthabende Geselle drehte klirrend den Schlüssel im Schloß. Drinnen hob die Klientin den Kopf und riß ihre dunklen Augen weit auf. Meister Palaemon trug den mit schwarzem Zobel verbrämten Mantel und die samtene Maske seines Standes; dies, so vermute ich, oder das vorstehende Augenglas, das er zum besseren Sehen benutzte, muß sie erschreckt haben. Sie sagte nichts, und selbstverständlich sprach keiner von uns mit ihr.
»Hier«, begann Meister Palaemon mit seiner trockensten Stimme, »haben wir etwas nicht Alltägliches im normalen Vollzug und ein anschauliches Beispiel für moderne Verfahren. Die Klientin wurde in der vergangenen Nacht einem Verhör unterzogen – vielleicht haben einige von euch sie gehört. Zwanzig Tropfen Tinktur wurden vor der Marter gegeben und zehn danach. Die Dosis war zu schwach, um Schock und Ohnmacht zu verhindern, so daß nach dem Schinden des rechten Beins abgebrochen wurde, wie gleich zu sehen ist.« Mit einer Geste veranlaßte er Drotte, den Verband abzunehmen.
»Halber Stiefel?« fragte Roche.
»Nein, ganzer Stiefel. Sie war eine Zofe, und wie Meister Gurloes sagt, haben diese eine dicke Haut. In ihrem Fall hatte er recht. Ein einfacher runder Schnitt wurde unterhalb des Knies angelegt und der Wundrand mit acht Klammern aufgenommen. Das sorgfältige Arbeiten von Meister Gurloes, Odo, Mennas und Egil erlaubte es, daß ohne weitere Zuhilfenahme des Messers alles zwischen dem Knie und den Zehen entfernt werden konnte.«
Wir versammelten uns um Drotte, wobei sich die jüngeren Knaben vordrängten und so taten, als wüßten sie, nach welchen Stellen sie sehen müßten. Die Arterien und großen Venen waren alle unbeschädigt, trotzdem sickerte allgemein langsam Blut aus der Wunde. Ich half Drotte beim Auflegen von neuem Verbandszeug.
Als wir uns gerade zum Gehen anschickten, sagte die Frau: »Ich weiß es nicht. Ach, wollt ihr denn nicht glauben, daß ich's euch sagte, wenn ich's wüßte? Sie ist mit Vodalus vom Wald gegangen, wohin, das weiß ich nicht.« Unwissenheit vorschützend, fragte ich draußen Meister Palaemon, wer Vodalus vom Wald sei.
»Wie oft habe ich schon erklärt, daß nichts, was ein Klient bei der Vernehmung äußert, von euch gehört wird?«
»Schon oft, Meister Palaemon.«
»Aber umsonst! Bald kommt der Maskentag, Drotte und Roche werden Gesellen und du Lehrlingswart. Ist dies das Beispiel, das du den Knaben geben willst?«
»Nein, Meister.«
Hinter dem Rücken des alten Mannes warf Drotte mir einen Blick zu, der besagte, daß er viel über Vodalus wisse und es mir bei passender Gelegenheit erzählen werde.
»Einst wurden die Gesellen unserer Zunft taub gemacht. Möchtest du, daß so etwas wieder kommt? Nimm die Hände aus den Taschen, wenn ich mit dir spreche, Severian!«
Ich hatte sie dort hineingesteckt, um seinen Zorn abzulenken, aber als ich sie herauszog, bemerkte ich, daß ich mit der Münze, die Vodalus mir am Abend zuvor geschenkt hatte, gespielt hatte. In der Aufregung des Kampfes, der in meiner Erinnerung noch lebendig war, hatte ich sie vergessen; nun brannte ich darauf, sie zu begutachten – aber konnte nicht, weil Meister Palaemon mich
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