Der Schatten des Folterers
wuchtete sie hoch und legte meinen Chrysos darunter, woraufhin ich eine Zauberformel murmelte, die ich vor Jahren von Roche gelernt hatte – einen Reim, der versteckte Gegenstände vor Entdeckung schützte:
»Hier sei und bleibe außer Sicht,
Zeig dich fremdem Auge nicht,
Gläsern scheine ihm im Licht,
Wo ich dich verborgen.
Daß keiner dich entwende,
Verwirre fremde Hände
Und fremde Augen blende,
Bis ich dich geborgen.«
Damit der Zauber tatsächlich wirksam würde, müßte man bei Mitternacht, eine Totenkerze tragend, um die Stelle herumgehen, aber ich brach unwillkürlich in Gelächter aus bei diesem Gedanken – er erinnerte mich an Drottes bei Mitternacht auf Gräbern gesammelte Heilkräuter – und beschloß, mich allein auf den Reim zu verlassen, obgleich ich verwundert feststellte, daß ich nun alt genug wäre, mich dessen nicht zu schämen.
Die Tage vergingen, aber die Erinnerung an meinen Besuch im Mausoleum blieb so frisch, daß ich davon absah, die Sicherheit meines Schatzes durch jemand anders auf die Probe stellen zu lassen, obschon es mich zuweilen dazu gelüstete. Dann fiel der erste Schnee, der die Ruinen der Ringmauer in eine fast unüberwindlich rutschige Barriere verwandelte und die vertraute Nekropolis in ein wunderlich ödes, falsches Hügelfeld, in dem die Grabmale unter den frischen Schneehauben mit einemmal übergroß wirkten, während Bäume und Büsche unter der weißen Last auf halbe Größe schrumpften.
Die Lehrzeit in unserer Zunft ist so angelegt, daß ihre Bürden, die einem anfangs zwar leicht vorkommen, mit dem Heranwachsen immer schwerer werden. Die kleinsten Knaben arbeiten überhaupt nicht. Mit sechs Jahren, wenn die Arbeit beginnt, ist zuerst nicht mehr zu tun als mit Botschaften die Treppen des Matachin-Turms hinauf- und hinabzueilen, was der kleine Lehrling – stolz, damit betraut zu werden – nicht als Mühe empfindet. Im Laufe der Zeit wird seine Arbeit jedoch immer beschwerlicher. Die Pflicht führt ihn in andere Teile der Zitadelle: zu den Soldaten im Vorwerk, wo er erfährt, daß die Zöglinge des Militärs Trommeln, Trompeten, Ophikleiden, Stiefel und manchmal vergoldete Kürasse haben; zum Bärenturm, wo er Knaben in seinem Alter sieht, die lernen, mit allerlei seltsamen Kampftieren umzugehen – mit Doggen, deren Schädel so groß wie ein Löwenhaupt ist, mit übermannsgroßen Diatrymen, deren Schnabel in einer stählernen Scheide steckt – und an hundert andere solche Plätze, wo er zum ersten Mal entdeckt, daß seine Zunft verhaßt und verachtet ist, sogar bei jenen (ja, hauptsächlich bei jenen), die von ihren Diensten Gebrauch machen. Bald sind Putz- und Küchenarbeiten an der Reihe. Während der Koch das vielleicht reizvolle oder angenehme Kochen besorgt, muß der Lehrling Gemüse schälen, den Gesellen servieren und in endloser Folge Tabletts stapelweise über die Treppe in die Oubliette hinuntertragen.
Ich wußte es damals noch nicht, aber bald würde dieses mein Leben als Lehrling, das immer mühsamer geworden war, soweit ich zurückdenken konnte, einen neuen Lauf nehmen und bequemer und gemütlicher werden. Im Jahr vor der Ernennung zum Gesellen beaufsichtigt ein älterer Lehrling fast nur noch die Arbeit der jüngeren. Sein Essen und sogar seine Kleidung werden besser. Die jüngeren Gesellen behandeln ihn fast schon als gleichrangig, und er trägt vor allem die erhebende Bürde der Verantwortung und kann nach eigenem Ermessen Weisungen geben und durchsetzen.
Mit der Erhebung wird er erwachsen. Er führt nur solche Arbeiten aus, die in sein Fach fallen; er hat freien Ausgang, wenn sein Dienst in der Zitadelle vorüber ist, und erhält für seine Vergnügungen reichlich Geld. Sollte er schließlich zum Rang eines Meisters aufsteigen (einer Ehre, die der einstimmigen Wahl durch alle lebenden Meister bedarf), kann er sich solche Aufträge aussuchen und auswählen, an denen er Interesse oder Gefallen findet, und die Gilde selbst in ihren Belangen lenken.
Aber ihr müßt wissen, daß ich in dem Jahr, von dem ich schreibe, dem Jahr also, in dem ich Vodalus das Leben gerettet habe, von all dem keine Ahnung gehabt habe. Der Winter (so erfuhr ich) hatte den Feldzügen im Norden ein Ende gesetzt und somit den Autarchen und seine wichtigsten Offiziere und Ratgeber wieder zum heimischen Sitz der Gerechtigkeit geführt. »Und deshalb«, erklärte Roche, »haben wir so viele neue Klienten. Und es werden noch welche folgen ... Dutzende, Hunderte vielleicht.
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