Der Schatten des Folterers
Womöglich müssen wir das vierte Stockwerk wieder öffnen.« Ein Wink seiner sommersprossigen Hand zeigte, daß er zumindest bereit wäre, alles Erforderliche zu tun.
»Ist er hier?« fragte ich. »Der Autarch? Hier in der Zitadelle? Im Großen Turm?«
»Natürlich nicht. Wenn er je käme, wüßtest du's, nicht wahr? Es gab' Paraden und Inspektionen und alle möglichen Vorkehrungen. Es sind dort Gemächer für ihn, aber die Tür dazu ist seit hundert Jahren nicht mehr geöffnet worden. Er hält sich wohl an entlegenen Orten auf – im Haus Absolut – irgendwo nördlich der Stadt.«
»Weißt du denn nicht, wo?«
Roche wurde abwehrend. »Man kann nicht sagen, wo es liegt, weil es außer dem eigentlichen Haus Absolut dort nichts gibt. Es ist da, wo es ist. Im Norden, am anderen Ufer.«
»Jenseits der Mauer?«
Er lächelte über meine Unwissenheit. »Weit dahinter. Wochen zu Fuß. Natürlich könnte der Autarch mit einem Flieger augenblicklich hier zur Stelle sein, wenn er wollte. Auf dem Flaggenturm – dort würde er landen.«
Aber unsere neuen Klienten trafen nicht mit Fliegern ein. Die unbedeutenderen kamen in Herden von zehn bis zwanzig Männern und Frauen, hintereinander am Hals aneinandergekettet. Bewacht wurden sie von Dimarchi, abgebrühten Reitern in Rüstung, die aussahen, als wären sie zum Gebrauch geschaffen und ordentlich gebraucht worden. Jeder Klient trug einen Kupferzylinder, der angeblich seine Papiere und damit sein Schicksal enthielt. Alle hatten sie natürlich die Siegel gebrochen und diese Papiere gelesen; manche hatten sie vernichtet oder gegen die eines anderen eingetauscht. Diejenigen, die ohne Papiere eintrafen, würden eingesperrt werden, bis wir Kenntnis davon erhielten, wie mit ihnen zu verfahren sei – vermutlich also für den Rest ihres Lebens. Diejenigen, die ihre Papiere getauscht hatten, hatten auch ihr Schicksal getauscht; sie würden eingesperrt oder freigelassen, gefoltert oder hingerichtet werden – an eines anderen Stelle.
Die bedeutenderen kamen in gepanzerten Wagen. Die Stahlwände und Gitterfenster dienten in erster Linie nicht der Fluchtverhinderung, sondern der Vereitelung von Befreiungsversuchen. Sobald das erste dieser Vehikel um die Ostseite des Hexenturms gerollt und mit Getöse im Alten Hof aufgefahren war, gingen in der ganzen Zunft Gerüchte um von dreisten Überfällen, die Vodalus plane oder ausgeführt habe. Denn alle Lehrlinge und die meisten Gesellen hielten viele dieser Klienten für seine Gefolgsleute, Helfershelfer und Verbündeten. Ich hätte sie aus diesem Grunde nicht freigelassen – das hätte die Zunft in Verruf gebracht, was ich trotz meiner engen Bindung an ihn und seine Bewegung nicht gewollt hätte, und es wäre mir sowieso nicht gelungen. Aber ich hoffte, denjenigen, die ich als meine Waffenbrüder ansah, etwas Erleichterung verschaffen zu können, soweit es in meiner Macht lag: zusätzliches Essen, das ich von den Tabletts solcher Klienten stahl, die es weniger verdienten, und hin und wieder einen aus der Küche geschmuggelten Happen Fleisch.
Eines stürmischen Tages bekam ich Gelegenheit, in Erfahrung zu bringen, wer sie waren. Ich schrubbte gerade den Boden in Meister Gurloes' Studierzimmer, als dieser zu irgendeiner Besorgung hinausgerufen wurde und die neu eingetroffenen Aktenbündel auf seinem Schreibpult liegenließ. Sobald die Tür hinter ihm zugefallen war, eilte ich zum Tisch und konnte die meisten überfliegen, bevor ich wieder seine schweren Tritte auf den Stufen vernahm. Kein einziger – kein einziger – der Gefangenen, deren Papiere ich eingesehen hatte, war ein Anhänger von Vodalus. Es handelte sich um Kaufleute, die mit Waren, welche das Heer benötigte, einen fetten Profit hatten einstreichen wollen; um Marketender, die für die Ascier spioniert hatten, und hie und da um lumpige Gauner. Sonst nichts.
Als ich meinen Eimer hinaustrug, um ihn in den Spülstein auf dem Alten Hof zu leeren, hielt dort einer dieser gepanzerten Wagen mit seinem dampfenden, stampfenden, langmähnigen Gespann an und die Soldaten mit ihren pelzverbrämten Helmen nahmen scheu unsere Becher heißen Glühweins entgegen. Irgendwo schnappte ich den Namen Vodalus auf; aber anscheinend war ich der einzige, der ihn gehört hatte, und plötzlich war ich überzeugt, Vodalus sei nur ein Gespenst, das meine Phantasie aus dem Nebel hervorgezaubert hatte, und lediglich der Mann, den ich mit seiner eigenen Axt erschlagen hatte, sei echt gewesen. Die Akten,
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