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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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und nie wieder auf getan werden sollte.
    Ich wußte nicht, wohin wir überhaupt gingen. Die schmale, gewundene Straße führte uns den Hang hinab zu einer Brücke und zu einer anderen Straße, die etwa eine Meile lang von einem einsam in der Landschaft stehenden Holzzaun gesäumt wurde. Wohin wir auch immer gingen, wir sprachen kein Wort über uns selbst, sondern redeten nur von dem, was wir geschaut, und was es bedeuten mochte. Zu Beginn dieses Weges betrachtete ich Dorcas als eine zufällige Bekanntschaft und Gefährtin, ein zwar bewundernswertes, wenn auch bedauerliches Geschöpf. An seinem Ende jedoch liebte ich Dorcas, wie ich noch keinen anderen Menschen geliebt hatte. Nicht deshalb liebte ich sie, weil meine Liebe für Thecla allmählich nachließ – eigentlich wuchs durch meine Liebe zu Dorcas meine Liebe zu Thecla, denn Dorcas war ein anderes Selbst (wie Thecla es noch werden sollte in einer Weise, die so schrecklich wie die andere schön war), und wenn ich Thecla liebte, liebte Dorcas sie ebenfalls.
    »Glaubst du«, fragte sie, »daß es außer uns noch jemand gesehen hat?«
    Ich hatte das noch nicht bedacht, antwortete aber, daß der schwebende Palast zwar nur einen Augenblick lang sichtbar gewesen, indes über der größten aller Städte erschienen sei; falls nicht Millionen und aber Millionen, so doch gewiß immerhin Hunderte.
    »Wäre es nicht möglich, daß die Vision nur für uns gedacht war?«
    »Dorcas, ich hab' noch nie eine Vision gehabt.«
    »Und ich weiß nicht, ob ich. Wenn ich versuche, mich an die Zeit zu erinnern, bevor ich dich aus dem Wasser gerettet habe, fällt mir nur ein, selbst im Wasser gewesen zu sein. Alles Frühere ist wie eine zersprengte Vision aus lauter hellen Stückchen, so ein Fingerhut auf einem Samttuch, an den ich mich entsinne, oder das Bellen eines kleinen Hundes vor einer Tür. Alles ganz anders, ganz anders als das, was wir gesehen haben.«
    Was sie gesagt hatte, brachte mich wieder auf den Zettel, den ich in meiner Tasche gesucht hatte, als ich zwischen den Fingern die Klaue spürte, und dieser wiederum erinnerte mich an das braune Buch, das im Taschenfach daneben steckte. Ich fragte Dorcas, ob sie nicht das Buch sehen wolle, das einst Thecla gehört hätte, sobald wir einen Rastplatz fänden.
    »Ja«, erwiderte sie. »Wenn wir wieder vor einem Feuer sitzen wie damals im Gasthaus für eine kurze Weile.«
    »Dieses Relikt – das ich natürlich zurückgeben muß, bevor wir die Stadt verlassen können – und die eben angesprochenen Gedanken bringen mich auf etwas, das ich dort einmal gelesen habe. Weißt du vom Schlüssel zum Universum?«
    Dorcas schmunzelte. »Nein, Severian, ich, die ich kaum meinen Namen kenne, weiß nichts über den Schlüssel zum Universum.«
    »Ich habe mich schlecht ausgedrückt. Ich meinte eigentlich, ob dir der Gedanke bekannt sei, daß es zum Universum einen geheimen Schlüssel gebe. Ein Satz, ein Spruch oder auch nur ein einziges Wort, wie manche sagen, das den Lippen einer bestimmten Statue oder dem Firmament abzulesen sei, oder das ein Klausner in einem überseeischen Land seinen Jüngern lehre?
    »Säuglinge wissen das«, antwortete Dorcas. »Sie wissen es, noch ehe sie sprechen lernen, aber wenn sie alt genug zum Reden sind, haben sie das meiste wieder vergessen. Zumindest hat mir das einmal jemand gesagt.«
    »Genau, das meine ich. Das braune Buch ist eine Sammlung der alten Mythen und enthält ein Verzeichnis aller Schlüssel zum Universum – all der Dinge, die verschiedene Leute als das Geheimnis entdeckt haben, nachdem sie Mystagogen in fernen Welten gelauscht oder das Popul vuh der Magier gelesen oder im Stamm eines heiligen Baumes gefastet haben. Thecla und ich haben oft darin gelesen und darüber gesprochen; eins davon besagte, alles habe, was immer geschehe, drei Bedeutungen: Die erste sei die praktische Bedeutung, die im Buch ›das, was der Pflüger sieht‹ genannt wurde. Die Kuh hat einen Mundvoll Gras gefressen, und das Gras ist genauso echt wie die Kuh – diese Bedeutung ist ebenso richtig und wahr wie jede der beiden anderen. Die zweite Bedeutung ist, was für eine Betrachtung die Welt darüber hat. Jeder Gegenstand steht zu allen anderen in Beziehung, also kann der Weise durch Beobachtung des ersten Schlüsse über die anderen ziehen. Dies ließe sich als wahrsagerische Bedeutung bezeichnen, denn ihrer bedienen sich solche Menschen, die einem Glück verheißen, wenn man den Spuren einer Giftschlange begegnet, oder die

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