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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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streckte seine langen Arme nach mir aus, als wollte er mich ergreifen, wobei das Publikum aber sehen konnte, daß ihn eine zweite, bisher unbemerkte Kette, zurückhielt.
    »Sieh ihn an!« soufflierte mir Dr. Talos halblaut. »Halt ihn dir mit einer der Fackeln vom Leib!«
    Ich tat so, als bemerkte ich erst jetzt, daß Baldanders die Arme frei hatte, und riß eine der Fackeln aus dem Halter am Seitenrand der Bühne. Sofort begannen beide Fackeln zu tropfen; die Flammen, die bisher in einem reinen Gelb über Rot gebrannt hatten, leuchteten mit einemmal blau und grünlich, versprühten Funken und flackerten, gefährlich zischend, zu doppelter und dreifacher Größe auf, nur um augenblicklich wieder zu schrumpfen, als würden sie im nächsten Moment erlöschen. Ich stieß diejenige, die ich mir genommen hatte, Baldanders entgegen und rief: »Nein! Nein! Zurück! Zurück!« wie Dr. Talos mir wiederum souffliert hatte. Baldanders brüllte wütender denn je. Er zerrte an der Kette, daß die Bühnenrückwand, an die er gebunden war, ächzte und krachte, und sein Speichel begann buchstäblich zu schäumen und lief in dicken, weißen Strömen aus seinen Mundwinkeln über sein breites Kinn und besudelte seine schäbige, schwarze Kleidung wie Schneeflocken. Jemand im Publikum schrie auf, und die Kette zerbarst mit einem Knall wie von einer Fuhrmannspeitsche. Inzwischen war das Gesicht des Riesen zur gräßlichen Fratze geworden, und ich hätte ebensowenig versucht, mich ihm in den Weg zu stellen, als eine Lawine aufzuhalten; aber ehe ich mich mit einem Satz zur Seite retten konnte, hatte er mir die Fackel entwunden und mich mit dem eisernen Schaft niedergeschlagen.
    Den Kopf hebend, sah ich gerade noch, wie er sich die zweite Fackel schnappte und mit beiden auf das Publikum losstürmte. Das Männergeschrei erstickte das Frauengekreische – es hörte sich an, als hantierte unsere Zunft an hundert Klienten zugleich. Ich richtete mich wieder auf und wollte gerade Dorcas packen, um gemeinsam in den bergenden Wald zu fliehen, als ich Dr. Talos sah. Mit großer Schadenfreude – anders war das wohl nicht zu nennen – befreite er sich seiner Schellen, ließ sich aber dabei viel Zeit. Auch Jolenta entledigte sich der Fesseln, und wenn ihr vollkommenes Gesicht überhaupt etwas ausdrückte, dann war es Erleichterung.
    »Sehr gut!« rief Dr. Talos. »Wirklich sehr gut. Du kannst jetzt zurückkommen, Baldanders. Laß uns nicht allein im Dunkeln.« Und zu mir: »Hat dir dein Jungfernauftritt gefallen, Foltermeister? Für einen Anfänger ohne Proben hast du recht ordentlich gespielt.«
    Ich brachte ein Nicken zustande.
    »Bis auf den Umstand, daß Baldanders dich niedergeschlagen hat. Du mußt ihm verzeihen. Er hat einfach gesehen, daß du nicht mitbekommen hast, dich von selbst fallen zu lassen. Nun komm mit mir! Baldanders hat zwar seine Talente, aber ein scharfes Auge für im Gras verlorene Kleinigkeiten gehört nicht zu seinen Begabungen. Ich hab' hinter der Bühne ein paar Laternen. Du und die Unschuld sollt mir beim Auflesen helfen.«
    Ich hatte zwar nicht verstanden, was er meinte, aber ein paar Augenblicke später steckten die Fackeln wieder an ihren Plätzen, und wir durchspürten das Gelände vor der Bühne mit dunklen Lampen.
    »Ein riskantes Geschäft, ein Glücksspiel«, erklärte Dr. Talos. »Doch ich gestehe, ich liebe das. Das Geld im Hut ist eine sichere Sache – am Ende des ersten Aktes kann ich bis auf ein Orikalkum vorhersagen, wieviel es sein wird. Aber das Liegengebliebene! Vielleicht sind's nur zwei Äpfel und eine Rübe, kann aber auch alles mögliche sein, was man sich nur vorstellen kann. Wir haben ein kleines Ferkel gefunden. Köstlich, wie Baldanders es genannt hat, nachdem er es gegessen hat. Wir haben ein kleines Baby gefunden. Wir haben einen Stock mit goldenem Knauf gefunden, den ich noch gebrauche. Antike Broschen. Schuhe ... Wir finden oft Schuhe verschiedenster Art. Soeben habe ich einen Damenschirm gefunden.« Er hielt ihn hoch. »Genau das richtige für unsere schöne Jolenta, sich die Sonne vom Leib zu halten, wenn wir morgen weiterziehen.« Jolenta richtete sich auf wie jemand, der sich bemüht, keinen krummen Rücken zu machen. Über die Hälfte war sie von solcher Fülle, daß sie ein Hohlkreuz machen mußte, um das Gleichgewicht zu halten. »Wenn wir heut' noch in ein Gasthaus wollen«, sagte sie, »sollten wir bald aufbrechen. Ich bin sehr müde, Doktor.«
    Auch ich war erschöpft.
    »In ein

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