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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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durchgehen. Es war ein spannender Kampf, bis wir den armen Agilus endlich in einem Hof hatten, der für die Öffentlichkeit gesperrt war.
    Ich säuberte gerade meine Stiefel, als der Gerichtsbüttel mich dort aufsuchte. Als ich ihn kommen sah, dachte ich, er wolle mir meinen Lohn bringen, aber er gab zu verstehen, daß mich der Chiliarch höchstpersönlich bezahlen wolle. Eine unverhoffte Ehre, wie ich meinte.
    »Er hat die ganze Vollstreckung verfolgt«, sagte der Sekretarius.
    »Und er war recht zufrieden. Ich soll dir ausrichten, daß du und die Frau, die mit dir reist, willkommen seid, hier zu nächtigen, wenn ihr wollt.«
    »Wir brechen bei Dämmerung auf«, entgegnete ich. »Sicher ist sicher.«
    Er ging einen Augenblick in sich, nickte dann und zeigte mehr Verstand, als ich ihm zugetraut hätte, indem er antwortete: »Der Missetäter wird wohl eine Familie und Freunde haben – obschon du gewiß nicht mehr darüber weißt als ich. Trotzdem, 's ist eine Schwierigkeit, der du oft ausgesetzt sein wirst.«
    »Ich bin von erfahreneren Mitgliedern meiner Zunft gewarnt«, versetzte ich.
    Ich hatte gesagt, wir würden bei Dämmerung aufbrechen, aber wir warteten doch, bis es ganz dunkel war, teils aus Sorge um unsere Sicherheit, teils weil es klüger schien, das vorher aufgetischte Abendessen nicht auszulassen.
    Natürlich machten wir uns nicht geradenwegs zur Stadtmauer und nach Thrax auf. Das Tor (dessen Lage mir sowieso nicht genau bekannt war) war mit Sicherheit geschlossen, und zwischen den Kasernen und der Mauer gab es keine Gasthöfe, wie ich von allen Seiten gehört hatte. Was wir also zu tun hatten, war, uns zunächst einmal zu verlaufen und dann ein Nachtquartier zu finden, von dem aus wir am Morgen leicht zum Stadttor gelangen konnten. Ich hatte vom Büttel ausführliche Hinweise erhalten, bevor wir guter Dinge unseren Marsch antraten, und obzwar wir bald von unserem Weg abkamen, merkten wir das erst eine ganze Weile später. Der Chiliarch hatte versucht, mir meinen Lohn in die Hand zu drücken, anstatt mir das Geld (wie es der Brauch war) vor die Füße zu werfen, wovon ich ihm um seines Rufes willen hatte abraten müssen. Ich schilderte Dorcas in allen Einzelheiten diesen Vorfall, der mich ebenso belustigte, wie er mir geschmeichelt hatte. Als ich zu Ende gesprochen hatte, wollte sie, praktisch denkend, wissen:
    »Also hat er dich gut bezahlt?«
    »Mehr als das Doppelte, was er mir für den Dienst eines einzigen Gesellen geschuldet hätte. Einen Meisterlohn. Und natürlich bekam ich in Zusammenhang mit der Hinrichtung einige Trinkgelder. Weißt du, daß ich, obwohl ich mit Agia fast mein ganzes Geld ausgegeben habe, jetzt mehr besitze als bei meinem Fortgang von unserm Turm? Ich glaube allmählich, wenn ich unterwegs das Mysterium unserer Gilde ausübe, kann ich uns beide davon ernähren.«
    Dorcas schien den braunen Umhang enger um ihre Schultern zu ziehen. »Ich hoffte, du brauchtest deine Kunst gar nicht mehr auszuüben. Wenigstens nicht in der nächsten Zeit. Es ging dir hinterher so schlecht, was ich dir nicht verübeln kann.«
    »Es waren nur die Nerven – ich hatte Angst, etwas könnte schief laufen.«
    »Er tat dir leid, das weiß ich genau.«
    »Vermutlich ja. Er war Agias Bruder und ihr in allem bis aufs Geschlecht gleich.«
    »Du vermißt Agia, nicht wahr? Hast du sie so gemocht?«
    »Ich hab' sie nur einen Tag gekannt – vielleicht kürzer, als ich dich schon kenne. Wenn's nach ihr gegangen wäre, war' ich jetzt tot. Eine der beiden Avernen hätte mir den Garaus gemacht.«
    Ich kann mich noch gut an den Tonfall erinnern, in dem sie das gesagt hat; ja, wenn ich jetzt die Augen schließe, kann ich ihre Stimme wieder hören und spüre die Beklemmung, die mich überfallen hat, als ich gewahr geworden bin, daß ich mir Agilus immer noch mit der Averne in der Hand vorgestellt und diesen Gedanken gemieden habe. Das Blatt hatte mich nicht umgebracht, sondern ich hatte mich von meinem Überleben abgekehrt, genau wie ein Todkranker es durch tausend Kniffe versteht, dem Tod nicht ins Auge zu blicken; oder vielmehr wie eine Frau, die allein in einem großen Haus ist, es unterläßt, in Spiegel zu sehen, und sich mit belanglosen Besorgungen beschäftigt, damit ihr Blick ja nicht auf den Unhold falle, dessen Schritte sie zuweilen auf der Treppe hört.
    Ich habe überlebt, sollte indes tot sein. Das eigene Leben verfolgte mich wie ein Spuk. Ich schob eine Hand durch den Mantel und streichelte zunächst

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