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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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einem Fenster aus zuschaute. Ich suchte in der Menge nach Agia, konnte sie aber nicht finden; Dorcas hatte auf meine Bitte hin vom Büttel einen Platz auf der Treppe des Justizpalastes zugewiesen bekommen.
    Der dicke Mann, der mich am Vortag abgefangen hatte, drängte sich so dicht wie möglich ans Schafott, obwohl er dabei den Flammen eines Fackelhalters mit seinem fülligen Mantel gefährlich nahe kam. Die junge Frau mit den hungrigen Augen wartete zu seiner Rechten, die Grauhaarige zu seiner Linken; ihr Taschentuch steckte in meinem Stiefelschaft. Der kleine Mann, der mir einen Asimi gegeben hatte, und der Mann mit den glanzlosen Augen, der gestottert und so merkwürdige Dinge gesprochen hatte, waren nirgendwo zu sehen. Ich suchte die Dächer nach ihnen ab, wo sie trotz ihrer kleinwüchsigen Statur gute Sicht gehabt hätten; auch wenn ich sie nicht fand, dort hielten sie sich wohl auf.
    Vier Feldwebel mit Paradehelmen führten Agilus vor. Ich bemerkte, daß sich die Menschenmasse vor ihnen teilte wie das Kielwasser von Hildegrins Barke, bevor ich sie überhaupt sehen konnte. Dann erschienen die scharlachroten Federbüsche, die blitzenden Rüstungen und zuletzt Agilus' brauner Haarschopf und sein breites, knabenhaftes Gesicht, das er hoch trug, da die Ketten, mit denen seine Arme gefesselt waren, ihm die Schulterblätter zusammendrückten. Mir war deutlich vor Augen, wie vornehm er im Harnisch eines Gardeoffiziers mit der goldenen Chimära auf der Brust gewirkt hatte. Es schien tragisch, daß er nun nicht von Männern der gewissermaßen eigenen Einheit anstelle der narbigen gemeinen Soldaten in ihrem mühsam polierten Stahl begleitet werden konnte. Man hatte ihn seines ganzen Putzes entledigt, und ich erwartete ihn mit der schwarzen Maske, in der ich mich ihm zum Kampf gestellt hatte. Dumme alte Frauen glaubten, der Panjudicator bestrafe uns mit Niederlagen und belohne uns mit Siegen; ich meinte, mehr Lohn erhalten zu haben, als mir lieb war.
    Bald bestieg er das Schafott, und die kurze Zeremonie begann. Als sie vorüber war, zwangen ihn die Soldaten auf die Knie, und ich erhob das Schwert und verdunkelte die Sonne endgültig.
    Wenn die Klinge so scharf ist, wie sie sein sollte, und der Streich regelhaft ausgeführt wird, spürt man nur ein leichtes Stocken, wenn sie das Rückgrat durchtrennt, dann einen handfesten Ruck, wenn die Schneide in den Richtblock fährt. Ich hätte schwören können, in der regenklaren Luft Agilus' Blut riechen zu können, noch ehe sein Kopf in den Korb plumpste. Die Menge wich zurück und wogte dann vorwärts gegen die waagrechten Lanzen. Ich hörte den deutlichen Seufzer des dicken Mannes – haargenau wie das keuchende Stöhnen, das er beim Höhepunkt von sich gäbe, wenn er sich auf einer Dirne abplagte. Von weitem tönte ein Aufschrei herüber: Agias Stimme, so unverkennbar wie ein vom Blitz erhelltes Gesicht. Etwas in ihrem Timbre ließ mich vermuten, sie habe gar nicht zugesehen, aber es dennoch gespürt, als ihr Zwillingsbruder starb.
    Das Nachspiel ist oft mühsamer als der eigentliche Akt. Sobald der Menge das Haupt gezeigt worden ist, darf es wieder in den Korb gelegt werden. Aber der enthauptete Leib (der noch lange nach dem Herzstillstand stark bluten kann) ist in einer würdigen, wenn auch unehrenhaften Weise zu entfernen. Ferner ist er nicht bloß zu »entfernen«, sondern an einen bestimmten Ort zu schaffen, wo er von Belästigungen verschont bleibt. Ein Beglückter darf dem Brauche nach quer über den Sattel des eigenen Streitrosses gelegt werden, und seine Überreste sind unverzüglich seinen Angehörigen auszuliefern. Für Personen niedrigeren Standes ist jedoch eine Ruhestätte zu finden, wo sie vor Leichenfressern sicher sind; außerdem sind sie, mindestens bis sie eindeutig außer Sicht sind, über den Erdboden zu schleifen. Der Scharfrichter kann diese Aufgabe nicht ausführen, da er bereits mit dem Haupt und seiner Waffe mehr als beschäftigt ist, und selten erklärt sich jemand von den übrigen Beteiligten – Soldaten, Gerichtsoffiziere und so weiter – dazu bereit. (In der Zitadelle besorgten das zwei Gesellen, was das Problem löste.)
    Der Chiliarch, ein geübter und gewiß auch leidenschaftlicher Kavallerist, hatte für Abhilfe gesorgt, indem er befahl, den Leichnam von einem Saumtiergespann wegschleifen zu lassen. Die Tiere hatte man jedoch nicht gefragt, und da sie mehr eine Arbeits- als eine Kriegsnatur waren, scheuten sie vor dem Blut und wollten

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