Der Schatten des Folterers
ganz behutsam über meine Haut. Ich spürte etwas wie eine Narbe und eine kleine Wundkruste, aber der Schorf blutete und schmerzte nicht mehr. »Sie sind nicht tödlich«, sagte ich. »Das ist alles.«
»Agia behauptete das Gegenteil.«
»Agia behauptete viel.« Wir bestiegen einen flachen Hügel, der im fahlen Mondschein lag. Vor uns stand die pechschwarze Mauer, die viel näher wirkte, als sie war oder sein konnte – wie es auch bei einem Gebirge scheint. Hinter uns erzeugten die Lichter von Nessus eine falsche Dämmerung, die mit fortschreitender Stunde immer mehr verblaßte. Ich hielt auf dem Bergkamm inne und bestaunte das Lichtermeer, als Dorcas mich beim Arm nahm. »So viele Häuser. Wieviele Menschen leben in der Stadt?«
»Das weiß keiner.«
»Und wir lassen sie alle zurück. Ist es weit nach Thrax, Severian?«
»Sehr weit, wie ich schon gesagt habe. Am Fuße des ersten Wasserfalls. Ich zwinge dich nicht, mitzugehen. Das weißt du.«
»Ich will. Aber angenommen ... Severian, nur angenommen, ich möchte später umkehren? Würdest du mich aufhalten?«
Ich antwortete: »Es wäre nicht ungefährlich für dich, den Rückweg allein anzutreten, also würde ich dir wohl raten, es nicht zu tun. Aber ich würde dich nicht anbinden oder einsperren, wenn du das meinst.«
»Du hast gesagt, daß du von der Nachricht, die man für mich in diesem Gasthaus hinterlegt hat, eine Abschrift erstellt habest. Erinnerst du dich? Aber du hast sie mir noch nicht gezeigt. Ich möchte sie jetzt sehen.«
»Ich habe dir wortwörtlich gesagt, was auf dem Zettel gestanden hat. Es ist ja nicht das Original, wie du weißt. Das hat Agia weggeworfen. Ich wette, sie hat vermutet, irgend jemand – Hildegrin vielleicht – wolle mich warnen.« Ich hatte meine Gürteltasche schon geöffnet; als ich nach dem Papier griff, fühlte ich noch etwas anderes, etwas Kaltes, das eine eigenartige Form hatte.
Dorcas bemerkte meine Verwunderung und fragte: »Was ist denn?« Ich nahm das Ding heraus. Es war nicht viel größer als ein Orikalkum und nur geringfügig dicker. Das kalte Material (was immer es sein mochte) warf das kühle Licht des Mondes als blau schimmernde Blitze zurück. Ich glaubte, in der Hand ein Leuchtfeuer zu halten, das die ganze Stadt sehen könnte: flugs steckte ich es zurück und klappte die Tasche zu.
Dorcas umklammerte meinen Arm so fest, als wäre sie ein Reif aus Gold und Elfenbein in Frauengestalt. »Was war das?« flüsterte sie.
Ich schüttelte den Kopf, um meine Gedanken zu ordnen. »Es gehört mir nicht. Ich wußte nicht einmal, daß ich es hatte. Ein Juwel, ein Edelstein ...«
»Unmöglich. Hast du nicht die Wärme gespürt? Sieh zu deinem Schwert: das ist ein Edelstein. Was aber ist dieses Ding gewesen, das du gerade hervorgeholt hast?«
Ich betrachtete den dunklen Opal am Knauf von Terminus Est. Er glänzte im Mondschein, hatte aber nicht mehr Ähnlichkeit mit dem Gegenstand aus meiner Tasche als ein Spiegel mit der Sonne. »Die Klaue des Schlichters«, sagte ich. »Agia ist's gewesen. Sie mußte es getan haben, als wir den Altar über den Haufen fuhren, damit man sie nicht an ihrem Leib fände, falls man sie durchsucht hätte. Sie und Agilus hätten sie wiederbekommen, als Agilus sein Recht als Sieger forderte, und da ich nicht starb, versuchte sie sie mir in der Zelle zu stehlen.«
Dorcas blickte nicht mehr auf mich. Sie hatte den Kopf erhoben und der Stadt mit ihrem glühenden Lichterschein zugewandt.
»Severian«, entfuhr es ihr. »Das kann nicht sein.«
Über der Stadt schwebte wie ein fliegender Berg aus einem Traum ein gewaltiges Bauwerk – ein Bauwerk mit Türmen, Strebepfeilern und einem Tonnendach. Scharlachrotes Licht entströmte seinen Fenstern. Ich versuchte zu sprechen, um das Wunder zu leugnen, noch während ich es sah; aber ehe ich eine Silbe formen konnte, war es verschwunden wie eine Blase in einem Springbrunnen, und übrig blieb nur ein Funkenregen.
Das Spiel
Erst nach der visionären Erscheinung dieses gewaltigen Gebäudes, das über der Stadt geschwebt hatte und dann verschwunden war, wurde ich mir allmählich gewahr, daß ich Dorcas liebte. Wir schritten über die Straße – denn wir hatten hinter dem Bergkamm eine neue Straße entdeckt – in die Dunkelheit hinab. Unsere Gedanken waren ganz auf das ausgerichtet, was wir gerade gesehen hatten, und im Geiste durchliefen wir jene visionären Augenblicke, als träten wir ungehindert durch eine Tür, die noch nie aufgetan worden war
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