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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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Folgen einer Liebschaft bekräftigen, indem sie den Freier der einen Antragspartei auf die gönnerhafte Dame der anderen legen.«
    »Und die dritte Bedeutung?« fragte Dorcas.
    »Die dritte ist eine transsubstantielle Bedeutung. Da alle Dinge ihren Ursprung im Pancreator haben und von ihm in Bewegung gesetzt worden sind, muß in allen sein Wille zum Ausdruck kommen – die sogenannte höhere Realität.«
    »Du willst sagen, was wir gesehen haben, ist ein Zeichen gewesen.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Das Buch legt dar, daß alles ein Zeichen ist. Der Pfosten dieses Zaunes ist ein Zeichen, desgleichen die Art, wie sich dieser Baum über ihn neigt. Manche Zeichen offenbaren die dritte Bedeutung leichter als andere.«
    Die nächsten hundert Schritte oder so taten wir stumm. Dann sagte Dorcas: »Mir scheint, wenn das, was im Buch der Chatelaine Thecla steht, stimmt, dann begreifen die Leute alles verkehrt. Wir haben gesehen, wie ein großes Gebilde emporgeschossen ist und sich wieder in Luft aufgelöst hat, nicht wahr?«
    »Ich hab' nur gesehen, daß es über der Stadt geschwebt hat. Ist es emporgeschossen?«
    Dorcas nickte. Ihr helles Haar glänzte im Mondlicht. »Mir scheint, die erste Bedeutung, die du genannt hast, ist sehr klar. Aber die zweite ist nicht so einfach zu entdecken, und die dritte, die am leichtesten sein sollte, überhaupt nicht.«
    Ich wollte gerade sagen, daß ich sie verstehe – zumindest in bezug auf die erste Bedeutung – als ich aus einiger Entfernung ein Rumpeln und Rattern vernahm, als donnerte es. Dorcas rief: »Was war das?« und ergriff mit ihrer kleinen, warmen Hand die meine, was ich als sehr angenehm empfand.
    »Ich weiß es nicht, aber offenbar kam es aus dem Gehölz da vorne.« Sie nickte. »Jetzt höre ich Stimmen.«
    »Dann hast du ein besseres Gehör als ich.«
    Wieder polterte es, diesmal lauter und nachhaltiger; nun glaubte ich auch – vielleicht nur, weil wir ein kleines Stück näher waren – zwischen den Stämmen des jungen Buchenhains Lichter zu entdecken.
    »Da!« Dorcas deutete auf eine Stelle etwas nördlich von dem Wäldchen. »Das kann kein Stern sein. Es ist zu tief und zu hell und bewegt sich zu schnell.«
    »Es ist eine Laterne, glaube ich. Vielleicht an einem Wagen, oder es trägt sie jemand in der Hand.«
    Wieder hörten wir das Rollen; nur erkannte ich es jetzt als das, was es war – eine Trommel. Auch schwache Stimmen vernahm ich nun, insbesondere eine Stimme, die tiefer als die Trommel und beinahe ebenso laut tönte.
    Als wir den Saum des Wäldchens umschritten hatten, sahen wir etwa fünfzig Leute, die sich um ein kleines Podest versammelt hatten. Auf diesem stand zwischen lodernden Fackeln ein Riese, der sich eine Kesselpauke wie ein Tamtam unter den Arm geklemmt hatte. Ein viel kleinerer Mann in prächtigen Kleidern stand zu seiner Rechten und zu seiner Linken, halb nackt, die sinnlichste, schönste Frau, die ich je gesehen hatte.
    »Alle sind da«, verkündete der kleine Mann laut und sehr rasant.
    »Alle sind da. Was wollt ihr sehen? Liebe und Schönheit?« Er deutete auf die Frau. »Kraft? Mut?« Er zeigte mit dem Stock, den er trug, auf den Riesen. »Illusionen? Mysterien?« Er klopfte sich auf die eigene Brust. »Laster?« Er zeigte wieder auf den Riesen. »Und seht – seht, wer gerade kommt! Unser alter Feind, der Tod, der immer kommt, ob früher oder später.« Mit diesen Worten deutete er auf mich, und alle Gesichter im Publikum wandten sich mir mit großen Augen zu.
    Es waren Dr. Talos und Baldanders; erst einmal erkannt, schien die Begegnung mit ihnen unabwendbar. Die Frau war mir, soweit ich wußte, fremd.
    »Der Tod!« sagte Dr. Talos. »Der Tod ist gekommen. Ich habe dich in diesen zwei Tagen verkannt, Freund Hein; ich hätte es besser wissen müssen.«
    Ich erwartete, daß die Zuschauer über seinen schwarzen Humor lachten, was sie nicht taten. Ein paar raunten sich etwas zu, und ein altes Weib spuckte sich in die Hand und deutete mit zwei Fingern zum Erdboden.
    »Und wen hat er wohl mitgebracht?« Dr. Talos beugte sich vor und musterte Dorcas im Fackelschein. »Die Unschuld, glaube ich. Ja, 's ist die Unschuld. Nun sind alle da! Das Spiel wird sofort beginnen. Nichts für schwache Nerven! So etwas habt ihr noch nicht gesehen, nein, noch nie! Nun sind alle da.«
    Die schöne Dame war verschwunden, und ich hatte nicht einmal bemerkt, als sie gegangen war, so magnetisch war die Stimme des Doktors.
    Wollte ich Dr. Talos' Schauspiel beschreiben,

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