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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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Gasthaus? Heut' noch? Was für eine unerhörte Geldverschwendung. Sieh in diese Richtung, meine Liebe! Das nächste liegt mindestens eine Meile entfernt. Es würde eine Woche dauern, bis Baldanders und ich unser Theater und unsere Sachen gepackt hätten, selbst wenn uns dieser freundliche Engel der Pein zur Hand ginge. Bis wir im Gasthaus wären, stünde die Sonne über dem Horizont, krähten die Hähne und erhöben sich höchstwahrscheinlich tausend Toren aus den Betten, schlügen die Türen und kippten ihren Spülicht herab.«
    Baldanders grunzte (seine Zustimmung bekundend, wie ich dachte) und stieß dann mit dem Fuß wie nach etwas Giftigem, das er im Gras entdeckt hatte.
    Dr. Talos breitete schwungvoll die Arme aus, als wollte er das ganze Universum umspannen. »Während wir hier, meine Liebe, unter den Sternen, dem persönlichen und geschätzten Eigentum des Increatus, alles haben, was man sich für einen gesunden Schlaf wünschen könnte. Die Nacht ist durchaus kühl, so daß der Schläfer froh unter die wärmende Decke am heißen Feuer schlüpft, und kein Wölkchen deutet auf Regen hin. Hier wollen wir lagern, hier wollen wir am Morgen unser Brot brechen, und von hier wollen wir frisch in den heiteren jungen Tag hineinwandern.«
    Ich sagte: »Apropos Frühstück – habt ihr etwas zu essen? Dorcas und ich haben Hunger.«
    »Natürlich. Wie ich sehe, hat Baldanders einen Korb mit Süßkarktoffeln gefunden.«
    Einige Zuschauer unseres ehemaligen Publikums mußten Bauern gewesen sein, die mit ihren unverkauften Erzeugnissen von einem Markt heimzogen. Wir hatten zuletzt neben den Süßkartoffeln zwei Stück Geflügel und einige junge Zuckerrohrstangen. Bettzeug war ebenfalls vorhanden, wenn auch nicht viel, doch Dr. Talos verzichtete darauf; er wollte, wie er sagte, noch etwas aufbleiben, das Feuer betrachten und vielleicht später ein Nickerchen machen auf dem Stuhl, der bis vor kurzem noch als Autarchenthron und Richterbank gedient hatte.

Fünf Beine
    Eine Wache lang etwa lag ich schlaflos. Ich erkannte bald, daß Dr. Talos nicht schlafen würde, klammerte mich aber an die Hoffnung, er möge sich aus dem einen oder anderen Grund entfernen. Zunächst saß er, offenbar tief in Gedanken versunken, auf seinem Stuhl, dann erhob er sich und ging vor dem Feuer auf und ab. Seine Miene war starr, wenn auch nicht leer – er brauchte nur eine Braue hochzuziehen oder den Kopf schief zu halten, schon gewann das Gesicht einen völlig neuen Ausdruck. Während er hin- und herschritt vor meinen halb geschlossenen Augen, sah ich Betrübnis, Fröhlichkeit, Sehnsucht, Langeweile, Entschlossenheit und zwei Dutzend andere Emotionen, für die es keine Namen gibt, über diese füchsische Maske huschen.
    Schließlich machte er sich daran, mit seinem Gehstock nach den Blüten der Wildblumen zu schlagen. Bald hatte er alle im Umkreis von zehn Schritt vom Feuer geköpft. Ich wartete, bis ich seine aufrechte, drahtige Gestalt nicht mehr sehen und seine sausenden Stockhiebe nur noch schwach hören konnte. Dann zog ich langsam das Juwel hervor.
    Mir war, als hielte ich einen Stern in Händen, der in der Nacht leuchtete. Dorcas schlief, und ich wollte sie lieber nicht wecken, obschon ich mir gewünscht hatte, wir könnten uns den Edelstein gemeinsam ansehen. Das kalte blaue Licht wurde immer stärker, bis ich befürchtete, Dr. Talos könnte es sehen, obzwar er ein ganzes Stück entfernt war. Ich hielt das Juwel vor mein Auge mit der kindischverspielten Absicht, durch es wie durch eine Linse das Feuer zu betrachten, dann riß ich es flugs wieder weg – die vertraute Welt mit ihrem Gras und ihren Schläfern war nur noch ein Funkenreigen, von einem Säbelhieb gespalten.
    Ich bin nicht sicher, wie alt ich bei Meister Malrubius' Tod gewesen bin.
    Es muß eine Reihe von Jahren vor meiner Beförderung zum Lehrlingswart gewesen sein, als ich noch ein recht kleines Kind gewesen bin. Ich kann mich jedoch noch gut erinnern, wie Meister Palaemon die Nachfolge als Lehrmeister angetreten hat. Meister Malrubius bekleidete dieses Amt, seitdem ich mir bewußt war, daß es ein solches gab, und für Wochen, vielleicht Monate, hatte ich das Gefühl, daß Meister Palaemon, den ich ebenso oder mehr mochte, nicht unser richtiger Meister in dem Sinne, wie Meister Malrubius es gewesen war, sein konnte. Die Verunsicherung und Verwirrung wurden dadurch verstärkt, daß wir wußten, Meister Palaemon sei nicht tot, nicht einmal fort ... liege eigentlich nur in seiner

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