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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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höchste, Severian?«
    »Die letzte, Meister?«
    »Du meinst die Bindung an eine Abstraktion, bestehend aus der Wählerschaft, anderen Einrichtungen, die ihr zum Aufstieg verhelfen, und zahllosen weiteren Elementen, in hohem Maße ideal?«
    »Ja, Meister.«
    »Von welcher Art, Severian, ist deine eigene Bindung an das göttliche Wesen?«
    Ich sagte nichts. Vielleicht überlegte ich; wenn ja, war ich so schlaftrunken, daß ich mir meiner Gedanken gar nicht bewußt wurde. Dafür gewahrte ich um so deutlicher die Welt um mich herum. Der Himmel über mir mit all seiner Pracht schien einzig für mich geschaffen – einzig zu dem Zwecke, mir jetzt zur Ansicht vorgelegt zu werden. Ich lag auf dem Boden wie auf einer Frau, und sogar die Luft, die mich umgab, war außergewöhnlich klar und süffig wie Wein.
    »Antworte mir, Severian!«
    »Wenn überhaupt, so kommt die erste in Frage.«
    »An die Person des Monarchen?«
    »Ja, weil es keine Nachfolge gibt.«
    »Das Tier, das jetzt neben dir ruht, würde für dich sterben. Was für eine Bindung an dich hat es?«
    »Die erste?«
    Es war niemand da. Ich setzte mich auf. Meister Malrubius und Triskele waren verschwunden, obschon ich an meiner Seite noch die Körperwärme spürte.

Der Morgen
    Du bist wach«, sagte Dr. Talos. »Ich hoffe, du hast gut geschlafen?«
    »Ich hatte einen seltsamen Traum.« Ich stand auf und blickte mich um.
    »Es ist außer uns niemand hier.« Als würde er ein Kind beruhigen, deutete Dr. Talos auf Baldanders und die schlafenden Frauen.
    »Ich träumte, mein Hund – er ist schon seit Jahren verschwunden – sei zurückgekommen und habe sich neben mich gelegt. Beim Aufwachen spürte ich noch seine Körperwärme.«
    »Du hast neben dem Feuer gelegen«, betonte Dr. Talos. »Es ist kein Hund hier gewesen.«
    »Ein Mann in ähnlicher Kleidung wie ich.«
    Dr. Talos schüttelte den Kopf. »Ich hätte ihn gewiß gesehen.«
    »Vielleicht hast du gedöst.«
    »Nur am späten Abend. Die letzten zwei Wachen bin ich auf gewesen.«
    »Ich bewache das Theater und eure Sachen«, erbot ich mich, »wenn du jetzt schlafen möchtest.« In Wirklichkeit hatte ich Angst davor, mich wieder hinzulegen.
    Dr. Talos war im ersten Moment wohl unschlüssig und erwiderte dann: »Das ist sehr nett von dir«, woraufhin er sich steif auf meine nun taufeuchte Decke niederließ.
    Ich nahm seinen Stuhl und drehte ihn um, so daß ich ins Feuer blicken konnte. Eine Zeitlang war ich allein mit meinen Gedanken, die sich zunächst um den Traum drehten, dann um die Klaue, diesem mächtigen Relikt, das mir der Zufall in die Hände gespielt hatte. Sehr froh war ich, als Jolenta sich zu rühren begann, schließlich aufstand und ihre köstlichen Glieder in das Morgenrot streckte. »Gibt es Wasser?« wollte sie wissen. »Ich möcht' mich waschen.«
    Ich sagte ihr, Baldanders habe das Wasser für unser Nachtessen meiner Meinung nach von irgendwo aus dem Wäldchen geholt, woraufhin sie nickte und sich auf den Weg machte, dort nach einem Bach zu suchen. Ihr Erscheinen lenkte mich, gelinde gesagt, von meinen Gedanken ab; ich ertappte mich dabei, wie ich ihr nachsah, und mein Blick dann von ihr zu der auf dem Bauch liegenden Dorcas wechselte. Jolentas Schönheit war vollkommen. Noch nie hatte ich eine Frau gesehen, die an sie heranreichen könnte – Theclas hochgewachsene, stattliche Gestalt war, verglichen damit, eher derb und fast männlich gewesen, und die zierliche, blonde Dorcas schien so dürr und kindlich wie Valeria, das vergessene Mädchen, dem ich im Atrium der Zeit begegnet war.
    Dennoch wirkte Jolenta auf mich nicht so anziehend wie Dorcas; ich liebte sie nicht, wie ich Thecla geliebt hatte; und ich begehrte nicht dieselbe Vertrautheit von Denken und Gefühl, die sich zwischen Dorcas und mir entfaltet hatte – noch hätte ich sie für möglich gehalten. Wie jeder Mann, der sie sah, begehrte ich sie, aber ich wollte sie haben, wie man eine Frau in einem Gemälde haben möchte. Und obschon ich sie bewunderte, entging es mir (wie auf der Bühne am Vorabend) nicht, wie plump sie ging, die doch so anmutig erschien, wenn sie ruhte. Diese feisten Schenkel scheuerten aneinander, dieses entzückende Fleisch drückte schwer, so daß sie ihre Üppigkeit trug wie eine andere Frau ein Kind unter dem Busen. Als sie aus dem Gehölz zurückkehrte, glänzten in ihren Wimpern klare Wassertropfen, und ihr Gesicht war so rein und vollkommen wie die Rundung des Regenbogens, dennoch fühlte ich mich fast wie

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