Der Schatten des Folterers
allein.
»... ich sagte, es ist Obst da, wenn du was willst. Der Doktor bat mich gestern abend, etwas fürs Frühstück übrig zu lassen.« Ihre Stimme klang heiser und etwas atemlos. Sie ging einem wie Musik ins Ohr.
»Verzeihung«, antwortete ich. »Ich war in Gedanken. Ja, ich möchte etwas Obst. Sehr nett von dir.«
»Ich werd's dir nicht holen. Mußt dir selbst was holen, 's ist da drüben, hinter diesem Ständer mit der Rüstung.«
Die Rüstung, auf die sie deutete, war in Wirklichkeit ein Drahtgestell, das man mit Tuch bespannt und silbern bemalt hatte. Dahinter fand ich einen alten Korb, der Weintrauben, einen Apfel und einen Granatapfel enthielt.
»Ich möchte auch was«, sagte Jolenta. »Die Trauben, denke ich.«
Ich gab ihr die Beeren, legte den Apfel, den vermutlich Dorcas am liebsten essen würde, neben ihre Hand und nahm mir den Granatapfel.
Jolenta hielt die Trauben hoch. »Die stammen wohl aus dem Glashaus eines Beglückten – es ist noch zu früh für andere. Ich glaube, dieses Vagabundenleben wird gar nicht übel sein. Und ich erhalte ein Drittel des Geldes.«
Ich fragte, ob sie bisher nicht mit dem Doktor und seinem Riesen durch die Lande gezogen sei.
»Du kennst mich nicht mehr, was? Hätt' ich nicht gedacht.« Sie steckte sich eine Traube in den Mund, die sie, soweit ich sehen konnte, als ganzes verschluckte. »Nein, bin ich nicht. Allerdings haben wir geprobt, aber da plötzlich dieses Mädchen hinzugekommen ist, mußten wir alles umkrempeln.«
»Meine Rolle muß viel störender gewesen sein als die ihre. Sie war viel weniger auf der Bühne.«
»Ja, aber deine Mitwirkung war vorgesehen. Dr. Talos übernahm beim Proben neben der seinen auch deine Rolle und sagte mir, was du zu sprechen hättest.«
»Also war er auf mein Erscheinen angewiesen.«
Im Nu hatte sich der Doktor höchstpersönlich aufgesetzt. Er schien hellwach. »Natürlich, natürlich. Wir sagten dir beim gemeinsamen Frühstück, wo du uns treffen könntest, und wenn du gestern abend nicht gekommen wärst, hätten wir ›Große Szenen aus‹ gespielt und noch einen Tag gewartet. Jolenta, du bekommst nun kein Drittel der Einnahmen, sondern nur ein Viertel – es ist nur gerecht, daß wir mit der anderen Frau teilen.«
Jolenta zuckte die Achseln und verschlang die nächste Traube.
»Wecke sie jetzt, Severian! Wir müssen aufbrechen. Ich bringe Baldanders auf die Beine, dann teilen wir das Geld und packen.«
»Ich werde nicht mit euch kommen«, sagte ich. Dr. Talos sah mich seltsam an.
»Ich muß in die Stadt zurück. Habe beim Pelerinenorden etwas zu erledigen.«
»Dann kannst du uns begleiten, bis wir zur Hauptstraße kommen. Das ist der schnellste Rückweg.« Vielleicht deswegen, weil er von weiteren Fragen absah, argwöhnte ich, daß er mehr wußte, als er zugab.
Jolenta, die sich um unser Gespräch nicht kümmerte, unterdrückte ein Gähnen. »Ich brauche noch etwas Schlaf vor heute abend, sonst sehen meine Augen nicht so gut aus, wie sie sollen.«
Ich sagte: »Mach' ich, aber an der Hauptstraße muß ich umkehren.«
Dr. Talos hatte sich bereits abgewandt, um den Riesen zu wecken, den er rüttelte und dem er mit seinem dünnen Stock auf die Schultern klopfte. »Wie du meinst«, antwortete er, aber ich wußte nicht, ob er Jolenta oder mich gemeint hatte. Ich streichelte Dorcas die Stirn und flüsterte ihr zu, wir müßten nun aufbrechen.
»Hättest du mich nur schlafen lassen. Ich habe gerade etwas so Wunderschönes geträumt – in allen Einzelheiten, wie echt.«
»Ich auch, vor dem Wachwerden, meine ich.«
»Bist du schon lange wach? Ist der Apfel für mich?«
»Mehr wird's zum Frühstück nicht geben, fürchte ich.«
»Mehr brauch' ich nicht. Sieh ihn dir an, wie rot er ist! Wie sagt man?
›Rot wie die Äpfel des ...‹ Fällt mir nicht mehr ein. Möchtest du einen Bissen?«
»Ich habe schon gegessen. Einen Granatapfel.«
»Ich hätt's mir denken können wegen der Flecken an deinem Mund. Sieht aus, als hättest du die ganze Nacht Blut gesaugt.« Ich muß wohl ein entsetztes Gesicht gemacht haben, denn sie fügte hinzu: »Nun, du hast ausgesehn wie eine schwarze Fledermaus, als du dich über mich gebeugt hast.«
Baldanders setzte sich nun ebenfalls auf und rieb sich mit beiden Händen die Augen wie ein trauriges Kind. Dorcas rief ihm über das Feuer zu: »Schlimm, wenn man so zeitig aufstehen muß, nicht wahr, Gevatter? Hattest du auch Träume?«
»Keine Träume« antwortete Baldanders. »Ich
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