Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
Vom Netzwerk:
unserem einzigen Stuhl niedergelassen hatte, saß, als der Neuankömmling in Hörweite war.
    Eine weniger imponierende Gestalt hätte man sich jedoch nur schwerlich vorstellen können. Der Mann war klein von Statur, und seine übergroßen Kleider machten ihn noch kleiner, als er war. Sein kümmerliches Kinn war mit Stoppeln bedeckt. Beim Nähertreten zog er seine speckige Mütze ab, worunter ein Glatzkopf zum Vorschein kam, an dem das Haar beidseitig ausgefallen war, so daß nur noch ein nickendes Büschel in der Mitte übrigblieb, das an den Kamm eines alten, dreckigen Hahns erinnerte. Ich wußte, ich hatte ihn schon einmal irgendwo getroffen, aber es dauerte eine kleine Weile, bis ich ihn wiedererkannte.
    »Fürsten«, sagte er, »o Fürsten und Herrinnen der Schöpfung, in Seide gewandete, seidenhaarige Frauen und Beherrscher der Imperien und der Armeen der F-f-feinde unserer Ph-ph-photospähre! Starker Turm, fest wie Stein, stark wie die Ei-ei-eiche, die nach dem Feuer frische Blätter treibt! Mein Meister, finsterer Meister, Herr des Todes und Vizekönig der N-n-nacht! Lang diente ich auf Schiffen mit silbernen Segeln, den Hundertmastern, deren Mastspitzen die St-ststerne berührten. Ich schwebte durch ihre glänzenden Klüver, und die Plejaden leuchteten über der Vor-R-r-royalrah, aber noch nie sah ich euresgleichen! He-he-hethor heiß' ich, bin gekommen, dir zu dienen, dir den Schmutz von den Stiefeln zu kratzen, dein großes Schwert zu wetzen, dir den Korb zu tr-tr-tragen, aus dem mich die Augen deiner Opfer anstarren, Meister – Augen wie die toten Monde von Verthandi, als die Sonne erlosch. Als die Sonne er-erloschen ist! Wo sind sie denn, die schönen Spieler? Wie lange werden die Fackeln brennen? Die fr-frfrie-renden Hände greifen nach ihnen, aber die Fackelbecken sind kälter als Eis, kälter als die Monde von Verthandi, kälter als die toten Augen! Wo ist denn die Kraft, die den See zu Schaum schlägt? Wo ist das Imperium, wo sind die Armeen der Sonne mit ihren langen Lanzen und hohen Bannern? Wo sind die seidenhaarigen Frauen, die wir noch in der Nacht ge-ge-geliebt haben?«
    »Du warst unter dem Publikum, nehm' ich an«, sagte Dr. Talos. »Ich kann gut verstehen, daß du die Aufführung noch einmal sehen willst, aber damit können wir dir erst heut' abend dienen, wobei wir bis dahin hoffentlich ein gutes Stück Weges weitergekommen sind.«
    Hethor, dem ich vor Agilus' Gefängnis zusammen mit dem dicken Mann, der Frau mit den hungrigen Augen und den anderen begegnet war, schien ihn nicht zu hören. Sein Augenmerk galt mir; gelegentlich warf er einen flüchtigen Blick auf Baldanders und Dorcas. »Er tat dir weh, nicht wahr? Schlimm, schlimm. Ich sah dein Blut rinnen, rot wie Pfingsten. W-w-welche Ehre für dich! Du dienst ihm auch, und dein Dienst ist ein höherer als der meine.«
    Dorcas wandte sich kopfschüttelnd ab. Nur Baldanders machte große Augen. Dr. Talos sagte: »Du verstehst doch bestimmt, daß es nur eine Theateraufführung war, was du gesehen hast.« (Ich entsinne mich, überlegt zu haben, daß wir am Ende der Vorstellung, als Baldanders von der Bühne gesprungen ist, in ein schönes Dilemma geraten wären, hätte die Mehrheit der Zuschauer diesen Gedanken besser beherzigt.)
    »Ich v-verstehe mehr, als du glaubst – ich, der alte Kapitän, der alte Leutnant, der alte K-k-koch in seiner alten Küche, wo ich Suppe kochte, Brühe für die sterbenden Tiere! Mein Meister ist echt, aber wo sind deine Armeen? Echt – und wo sind deine Imperien? S-soll falsches Blut aus echten Wunden rinnen? Wo ist deine Kraft, wenn kein Bl-blblut mehr ist, wo ist der Glanz des seidigen Haars? Ich f-fang' es ein mit einem Glas – ich, der alte K-kapitän des alten trägen Sch-schiffes mit den silbernen Segeln – darauf die schwarzen Schatten der Mannschaft, dahinter der K-k-kohlenhaufen.«
    Ich sollte hier vielleicht erwähnen, daß ich damals dem Wortschwall des stotternden Hethor wenig Aufmerksamkeit geschenkt habe, obschon mich mein unauslöschbares Gedächtnis befähigt, seine Reden nun zu Papier zu bringen. Wenn er sprach, dann kollerte er im Leierton, wobei durch die Zahnlücken Speichel sprühte. Der bedächtige Baldanders verstand ihn vielleicht. Für Dorcas war er gewiß viel zu abstoßend, als daß sie viel von dem, was er sagte, gehört hätte. Sie wandte sich ab, wie man sich von den ächzend berstenden Knochen abwendet, wenn ein Alzabo einen Kadaver zerreißt, und Jolenta hörte nichts, was

Weitere Kostenlose Bücher