Der Schatten des Folterers
Folterers erlernt; nun rief ich sie mir ins Gedächtnis zurück – manchmal eine um die andere, wie man sie uns gelehrt hatte, manchmal alle zusammen in schmerzlicher Deutlichkeit. Tag für Tag in einem engen Kellerverlies zu leben und sich die Qualen auszumalen, ist selbst eine Qual.
Am elften Tag wurde ich zu Meister Palaemon gerufen. Ich sah das rote Sonnenlicht wieder und atmete den feuchten Wind, der im Winter den Frühling ankündigt. Aber – ach! – was kostete es mich, an der offenen Turmtür vorüberzugehen und beim Hinausblicken die Totenpforte in der Ringmauer mit ihrem halb dösenden Bruder Pförtner zu sehen.
Meister Palaemons Studierzimmer wirkte beim Eintritt sehr groß, aber auch sehr traulich auf mich – als wären die verstaubten Bücher und Dokumente mein eigen. Er bat mich, Platz zu nehmen. Er trug keine Maske und machte einen älteren Eindruck, als ich ihn in Erinnerung hatte. »Wir haben über deinen Fall gesprochen«, begann er.
»Meister Gurloes und ich. Wir haben die übrigen Gesellen und sogar die Lehrlinge ins Vertrauen ziehen müssen. Es ist besser, wenn sie die Wahrheit wissen. Die meisten sind sich einig, daß du den Tod verdienst.«
Er wartete auf eine Äußerung, aber ich schwieg.
»Obwohl viel zu deiner Verteidigung gesagt wurde. Mehrere Gesellen sprachen sowohl bei mir als auch Meister Gurloes vor und drangen auf uns ein, dir einen schmerzlosen Tod zu gewähren.«
Ich weiß nicht warum, aber es lag mir sehr viel daran zu erfahren, wieviele solcher Freunde ich hätte, also fragte ich danach.
»Mehr als zwei und mehr als drei. Die genaue Zahl ist ohne Belang. Glaubst du nicht, du verdientest einen schmerzhaften Tod?«
»Durch den Revolutionär?« antwortete ich in der Hoffnung, daß dieser als Gunst erbetene Tod nicht gewährt würde.
»Ja, das wäre angemessen. Aber ...«
Und hier legte er eine Pause ein. Aus einem Weilchen wurde eine ganze Weile. Die erste Fliege des neuen Jahres mit ihrem kupfernen Rücken surrte gegen das Fenster. Ich wollte sie zertreten, einfangen und wieder freilassen; ich wollte Meister Palaemon anbrüllen, endlich weiterzusprechen, aus dem Zimmer stürzen; aber ich war zu nichts davon fähig. Statt dessen harrte ich auf dem alten Holzstuhl neben seinem Tisch aus, wobei ich glaubte, schon tot zu sein, aber nochmals sterben zu müssen.
»Wir können dich nicht töten, weißt du. Ich hatte schwer zu kämpfen, bis ich Meister Gurloes davon überzeugt hatte, aber es ist so. Wenn wir dich ohne Vollstreckungsbefehl umbringen, sind wir nicht besser als du: du hast uns hintergangen, doch wir werden das Gesetz hintergangen haben. Ferner würden wir die Zunft auf immer gefährden ein Untersuchungsrichter würde es Mord nennen.«
Er wartete auf eine Äußerung von mir, und ich sagte: »Aber für das, was ich getan habe ...«
»Wär's die verdiente Strafe. Ja. Dennoch haben wir von Rechts wegen keine Befugnis, jemandem eigenmächtig ans Leben zu gehen. Die dieses Recht haben, hüten es eifersüchtig. Riefen wir diese an, wäre ein Schuldspruch gewiß. Aber unternähmen wir diesen Schritt, wäre der öffentliche Ruf der Gilde auf unerträgliche Weise besudelt. Viel von dem Vertrauen, das man uns nun entgegenbringt, wäre verloren, und zwar für immer. Wir könnten fest damit rechnen, daß unsere Geschäfte in Zukunft von anderer Seite überwacht würden. Gefiele es dir, wenn Soldaten unsere Klienten bewachten, Severian?«
Die Vision, die ich bekommen hatte, als ich um ein Haar im Gyoll ertrunken wäre, stieg vor mir wieder auf und übte (wie damals) eine düstere, wenn auch starke Anziehung auf mich aus. »Lieber nähme ich mir das Leben«, sagte ich. »Ich werde so tun, als wollte ich Schwimmen gehen, und dann in der Flußmitte, fern jeder rettenden Hand, untergehen.«
Ein bitteres Lächeln huschte über Meister Palaemons heruntergekommenes Gesicht. »Ich bin froh, daß du nur mir dieses Angebot gemacht hast. Meister Gurloes hätte es viel zu sehr ausgekostet, dir darlegen zu können, daß mindestens ein Monat verstreichen müßte, bis ein Bad im Fluß glaubhaft wirkte.«
»Es ist mir Ernst damit. Ich suche einen schmerzlosen Tod, aber es ist der Tod, den ich suche, keine Verlängerung des Lebens.«
»Selbst wenn es Hochsommer wäre, könnten wir nicht dulden, was du vorschlägst. Ein Untersuchungsrichter könnte immer noch folgern, daß wir deinem Tod nachhalfen. Zu deinem Glück haben wir uns auf eine weniger belastende Lösung geeinigt.
Weißt du
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