Der Schatten des Folterers
gestanden hatten.
Jenseits der Mauer strebte die große Nekropolis über den langen Hang dem Gyoll zu, dessen Wasser ich zwischen den halbverfallenen Gebäuden an seinen Ufern ausmachen konnte. Hinter den Fluten des Stromes wirkte die Kuppel der Karawanserei winzig wie ein Kieselstein, und die Stadt ringsum erschien mir wie eine bunte, von den Foltermeistern alter Zeiten niedergetretene sandbeschüttete Arena.
Ich sah einen Kaik mit hohem, schnittigem Bug und Heck und bauchigem Segel, der auf der dunklen Strömung gen Süden flog; und gegen meinen Willen folgte ich ihm eine Weile mit den Augen – zum Delta und zu den Sümpfen und schließlich zum funkelnden Meer, wo das große Ungeheuer Abaia, vor der Eiszeit von fernen Gestaden des Universums angespült, sich suhlt, bis für es und die Seinen der Augenblick kommt, die Kontinente zu verschlingen.
Dann löste ich mich von den Gedanken an den Süden und seine im Eis erstickenden Meere und wandte mich dem Norden mit seinen Bergen und dem Quellfluß zu. Lange (ich wußte nicht wie lange, obschon die Sonne offenbar weitergewandert war, als ich wieder nach ihrem Stand am Himmel ausschaute) blickte ich gen Norden. Die Berge gewahrte ich nur mit meinem geistigen Auge; so weit das fleischliche Auge reichte, sah ich nur das wellige Häusermeer der Stadt mit seinen Millionen Dächern. Und offengestanden verwehrten mir die große Silbersäule des Bergfrieds und die umliegenden Spitzen die halbe Sicht. Dennoch machte ich mir nichts aus diesen und bemerkte sie kaum. Im Norden lagen das Haus Absolut, die Wasserfälle mit Thrax, die Stadt der Fensterlosen Zimmer. Im Norden lagen die weiten Pampas, hundert pfadlose Wälder und die fauligen Dschungel an der Taille der Welt.
Als ich über all das nachgedacht hatte, bis ich halb verrückt war, stieg ich wieder hinab in Meister Palaemons Studierstube und teilte ihm mit, ich sei reisefertig.
Terminus Est
»Ich habe ein Geschenk für dich«, sagte Meister Palaemon. »Angesichts deiner Jugend und Kraft wird es dir, glaube ich, nicht zu schwer sein.«
»Ich verdiene ein Geschenk nicht.«
»So ist es. Aber wohlgemerkt, Severian, wenn man ein Geschenk verdient, ist es kein Geschenk, sondern Entlohnung. Die einzig wahren Geschenke sind solche, wie du es nun empfängst. Ich kann dir nicht verzeihen, was du getan hast, aber ich kann nicht vergessen, was du gewesen bist. Seit Meister Gurloes zum Gesellen aufgestiegen ist, habe ich keinen besseren Schüler mehr gehabt.« Er stand auf und ging steif zum Alkoven, wo ich ihn sagen hörte: »Ah, es ist mir noch nicht zu beschwerlich.«
Er hob etwas so Dunkles, daß es im Dämmerlicht unterging. »Laßt Euch helfen, Meister«, erbot ich mich.
»Nicht nötig, nicht nötig. Leicht zu heben, schwer zu senken. Das ist das Merkmal eines guten.«
Auf seinen Tisch legte er ein nachtschwarzes Behältnis, das seiner Länge nach fast ein Sarg hätte sein können, aber viel schmaler war. Als er seine Silberbeschläge öffnete, klirrten sie wie Glöckchen.
»Ich gebe dir nicht den Kasten, der dich nur behindern würde. Hier ist die Klinge, die Scheide zu ihrem Schutz beim Reisen und ein Gehenk.«
Ich hielt sie in der Hand, bevor ich richtig verstanden hatte, was er mir da gab. Die Scheide aus schwarzer Menschenhaut umhüllte es fast bis zum Knauf. Ich zog sie ab (sie war weich wie Handschuhleder) und besah mir das Schwert selbst.
Ich will euch nicht mit einer Aufzählung seiner vielen Vorzüge langweilen; ihr müßtet es sehen und halten, um es angemessen beurteilen zu können. Seine scharfe, zwei Ellen lange Klinge hatte eine vierkantige Spitze, wie es sich für ein solches Schwert gehört. Bis auf eine Spanne zum Stichblatt hin, welches aus gediegenem Silber mit zu Köpfen ausgearbeiteten Enden bestand, vermochten die beiden Schneiden ein Haar zu spalten. Das Heft aus Onyx, das silberne Bänder zusammenhielten, war zwei Spannen lang und mündete in einen Opal. Es war verschwenderisch mit Kunst verziert; aber da Kunst dazu dient, solchen Dingen Anziehung und Bedeutung zu verleihen, welche ohne sie dieser Eigenschaften ermangelten, hatte sie ihm nichts zu geben. Die Wörter Terminus Est waren in wunderlichen und schmuckvollen Lettern in die Klinge eingraviert, und weil ich seit meinem Aufenthalt im Atrium der Zeit genug über alte Sprachen gelernt hatte, kannte ich ihre Bedeutung: Dies ist die Trennlinie.
»Gut geschliffen, kann ich dir sagen«, erklärte Meister Palaemon, als er mich die eine
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