Der Schatten des Folterers
ich dachte: o Gott, nun werde ich sterben. Aber ich verlor nur die Besinnung, und die Hände verloren offenbar ihre Kraft, denn ich wurde wieder wach. Ist wie dieses Gerät, nicht wahr?«
»Allowins Halsband«, fügte ich ein.
»Nur schlimmer. Nun wollen meine Hände mich blenden, mir die Augenlider abreißen. Werde ich blind?«
»Ja«, sagte ich.
»Wie lange dauert's noch, bis ich sterbe?«
»Einen Monat vielleicht. Das Ding in Euch, das Euch haßt, wird schwächer, wie Ihr schwächer werdet. Der Revolutionär erweckte es zum Leben, aber seine Energie ist Eure Energie, und zuletzt werdet Ihr dann gemeinsam sterben.«
»Severian ...«
»Ja?«
»Ich sehe«, sagte sie. »Es entstammt dem Erebus, dem Abaia, ein passender Gefährte für mich. Vodalus ...«
Ich beugte mich näher, konnte aber nicht verstehen. Schließlich sagte ich: »Ich wollte Euch retten. Ich habe ein Messer gestohlen und die ganze Nacht auf eine Gelegenheit gewartet. Aber nur ein Meister ist berechtigt, einen Gefangenen aus der Zelle zu holen, und ich hätte meine Freunde ...«
»... töten müssen.«
»Ja, töten müssen.«
Ihre Hände rührten sich wieder, und aus ihrem Mund rann Blut.
»Bringst du mir das Messer?«
»Ich habe es hier«, antwortete ich und zog es unter dem Mantel hervor. Es war ein gewöhnliches Küchenmesser mit einer etwa spannenlangen Klinge.
»Sieht scharf aus.«
»Ist scharf«, versicherte ich. »Ich weiß, wie man eine Schneide wetzt, und ich habe sie gründlich geschliffen.« Das war mein letztes Wort an sie. Ich drückte ihr das Messer in die rechte Hand und ging hinaus.
Ich wußte, eine Weile würde ihr Wille sie zurückhalten. Tausendmal kam mir der gleiche Gedanke: ich könnte in ihre Zelle zurückgehen, das Messer wieder an mich nehmen, und niemand würde etwas erfahren. Ich könnte mein Leben in der Zunft weiterleben.
Falls sie röchelte, hatte ich's nicht gehört; aber nachdem ich eine lange Zeit auf ihre Zellentür gestarrt hatte, sickerte darunter ein scharlachrotes Bächlein hervor. Ich suchte daraufhin Meister Gurloes auf und gestand ihm, was ich getan hatte.
Der Liktor von Thrax
Die nächsten zehn Tage führte ich das Leben eines Klienten in einer Zelle des obersten Geschosses (die sogar ganz in der Nähe derjenigen, die Thecla gehört hatte, lag). Damit die Zunft nicht dem Vorwurf ausgesetzt wäre, mich ohne Prozeß festgehalten zu haben, blieb die Tür unverschlossen; jedoch wachten davor zwei Gesellen mit Schwertern, so daß ich sie nie verließ, außer am zweiten Tag, als ich für kurze Zeit zu Meister Palaemon gebracht wurde, um meine Geschichte noch einmal wiederzugeben. Das war meine Gerichtsverhandlung, wenn ihr wollt. Die restliche Zeit verging damit, daß man sich in der Zunft ein Urteil überlegte.
Wie man sagt, habe die Zeit die eigentümliche Wirkung, das Tatsächliche zu bewahren, indem sie unsere früheren Lügen bewahrheite. So geschah es auch mit mir. Es war unaufrichtig gewesen zu sagen, ich liebte die Zunft – daß ich nichts anderes wünschte, als in ihrem Schoß zu verbleiben. Nun stellte sich heraus, daß diese Lügen wahr wurden. Das Leben eines Gesellen und sogar das eines Lehrlings schienen mir unendlich reizvoll; nicht nur, weil ich sicher mit meinem Tod rechnen mußte; reizvoll an sich, weil ich's verloren hatte. Ich sah die Brüder nun vom Standpunkt eines Klienten und somit als mächtige treibende Kraft einer feindseligen und beinahe vollkommenen Maschinerie.
Darum wissend, daß mein Fall hoffnungslos war, erfuhr ich am eigenen Leibe, was Meister Malrubius mir als Kind eingeprägt hatte: Hoffnung sei ein psychologischer Mechanismus, der von den wahren äußeren Umständen unbeeinflußt bleibe. Ich war jung und litt keinen Hunger; ich durfte schlafen, also schöpfte ich Hoffnung. Im Wechsel von Wachsein und Schlaf träumte ich immer wieder, daß in letzter Minute vor meiner Hinrichtung Vodalus käme. Nicht allein, wie ich ihn in der Nekropolis kämpfen sah, sondern an der Spitze eines Heeres, das den Verfall der letzten Jahrhunderte hinwegfegte und uns wieder zu den Herren der Sterne machte. Oft glaubte ich, in den Fluren die polternden Tritte einer Armee zu hören; zuweilen trug ich meine Kerze zu dem schmalen Türschlitz, weil ich dachte, draußen im Dunkeln Vodalus' Gesicht gesehen zu haben.
Wie schon erwähnt, rechnete ich mit meinem Tod. Die Frage, die mich an diesen langen Tagen am meisten beschäftigte, war die Wahl der Mittel. Ich hatte alle Künste des
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