Der Schatten des Folterers
mir das gegeben?«
»Du bist herausgefordert worden. Aufgerufen worden.«
»Zum Duell? Unmöglich. Ich gehöre nicht zur kämpfenden Klasse.«
Sein Achselzucken war überzeugender als Worte. »Du mußt antreten, oder man wird dich umbringen lassen. Die einzige Frage ist nur, ob du wirklich den Hipparch beleidigt hast, oder ob irgendein hoher Würdenträger des Hauses Absolut dahintersteckt.«
So deutlich wie ich den Ladenbesitzer sah, sah ich auch Vodalus in der Nekropolis, wie er sich gegen die drei Freiwilligen behauptete; und obwohl mir meine Vernunft sagte, den Avernenstein wegzuwerfen und aus der Stadt zu fliehen, konnte ich das nicht tun. Jemand – vielleicht der Autarch selbst oder der düstere Vater Inire – hatte die Wahrheit über Theclas Tod erfahren und wollte mich nun vernichten, ohne die Gilde in Schande zu stürzen. Also gut, ich würde kämpfen. Falls ich siegte, gäbe ihm das zu denken; falls ich umkäme, wäre das nur gerecht. Immer noch an Vodalus' schlanke Klinge denkend, sagte ich: »Das einzige Schwert, mit dem ich umgehen kann, ist dieses.«
»Der Zwist wird nicht mit dem Schwert ausgetragen – eigentlich wär's am besten, du ließest dieses bei mir.«
»Ganz bestimmt nicht.«
Er seufzte abermals. »Ich sehe, du hast keine Ahnung davon, doch wirst du bei Dämmerung um dein Leben kämpfen müssen. Nun gut, du bist mein Kunde, und ich habe noch nie einen Kunden im Stich gelassen. Du wolltest einen Mantel. Hier.«
Er trat in den rückwärtigen Teil des Ladens und kam mit einem Gewand in der Farbe dürren Laubes wieder. »Probier diesen! Kostet vier Orikalken, wenn er paßt.«
Ein so großer und weiter Mantel mußte passen, wenn er nicht viel zu kurz oder zu lang wäre. Der Preis schien mir unverschämt hoch, aber ich bezahlte ihn, und als ich mir den Umhang überwarf, tat ich einen weiteren Schritt in Richtung auf das Drama, das mir dieser Tag als Schauspieler offenbar aufzwingen wollte. Ja, ich war schon in mehr Tragödien verstrickt, als mir klar war.
»Nun denn«, sagte der Ladenbesitzer, »ich muß hier bleiben und mich ums Geschäft kümmern, aber ich schicke dir meine Schwester, die dir helfen soll, deine Averne zu besorgen. Sie ist oft auf dem Blutacker gewesen, also kann sie dich vielleicht auch lehren, wie man damit kämpft.«
»Hat jemand von mir gesprochen?« Die junge Dame, die ich vor dem Laden getroffen hatte, kam aus einem der finsteren rückwärtigen Lagerräume. Mit ihrer Stupsnase und ihren merkwürdig schrägen Augen ähnelte sie ihrem Bruder so sehr, daß ich sie für Zwillinge hielt. Die schlanke Gestalt und die feinen Züge, die bei ihm unvereinbar wirkten, machten sie unwiderstehlich. Ihr Bruder mußte ihr erklärt haben, was mir widerfahren war. Ich weiß es nicht, weil ich's nicht gehört habe. Ich habe nur sie angeschaut.
Nun beginne ich abermals. Es ist schon eine ganze Weile her (zweimal habe ich draußen vor meiner Studierstube die Wache wechseln gehört), daß ich die Zeilen, die Ihr soeben gelesen habt, geschrieben habe. Ich weiß nicht, ob es richtig ist, diese Szenen, die vielleicht nur mir wichtig sind, so ausführlich darzustellen. Ich hätte es leicht zusammenfassen können: ich sah einen Laden und ging hinein; ich wurde von einem Offizier der Septentrionen herausgefordert; der Ladenbesitzer schickte mir seine Schwester, um mir die giftige Pflanze pflücken zu helfen. Ich habe lange Tage damit verbracht, die Geschichten meiner Vorgänger zu lesen, die nur aus knappen Berichten bestehen. Zum Beispiel von Ymar:
Er verkleidete sich und zog ins Land, wo er einen Muni sah, der unter einer Plantane meditierte. Der Autarch gesellte sich zu ihm und saß mit dem Rücken gegen den Stamm gelehnt, bis die Sonne allmählich von der Urth verstoßen wurde. Soldaten, die eine Oriflamme trugen, galoppierten vorüber, ein Kaufmann trieb sein Maultier an, das unter der Goldlast schwankte, eine schöne Frau ritt auf den Schultern von Eunuchen, und ein Hund trottete schließlich durch den Staub. Ymar erhob sich und folgte dem Hund lachend.
Vorausgesetzt, sie ist wahr – wie einfach läßt sich diese Anekdote erklären: der Autarch führte vor Augen, daß er sein Handeln willentlich bestimmte und nicht von den Reizen der Welt abhängig machte.
Thecla indes hatte viele Lehrer gehabt, von denen ein jeder dasselbe Geschehen anders auslegen würde. Hierzu könnte also ein zweiter Lehrer sagen, der Autarch war gegen das, was den gemeinen Mann anziehe, gefeit, aber
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