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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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Religion hat sicherlich viel dazu beigetragen, sie in Nessus, wo ich neben dem meinigen nie einen anderen gesehen habe, auszurotten. Hätte ich mehr davon verstanden, als ich den meinen in dem Lumpenladen überzog, hätte ich mir dazu einen weichen Hut mit breiter Krempe gekauft; aber ich kannte mich damit nicht aus, und die Schwester des Ladenbesitzers meinte, ich sähe wie ein richtiger Wallfahrer aus. Gewiß sagte sie das mit jenem höhnischen Unterton, womit sie alles sagte, aber da ich so mit meinem Aussehen befaßt war, entging mir dies. Ich teilte ihr und ihrem Bruder mit, daß ich mehr über Religion wissen wollte.
    Beide lächelten, und der Bruder erwiderte: »Wenn du davon anfängst, wird keiner mit dir darüber reden wollen. Außerdem kannst du dich dadurch in guten Ruf bringen, daß du das trägst und nicht davon sprichst. Wenn du jemandem begegnest, mit dem du gar nicht sprechen willst, bettle um Almosen!«
    So wurde ich also zumindest dem Aussehen nach ein Pilger auf einer Wallfahrt zu einem Ungewissen nördlichen Schrein. Habe ich nicht gesagt, daß die Zeit unsere Lügen bewahrheitet?

Der Altarsturm
    Die frühmorgendliche Stille war dem Lärm des Tages gewichen, als ich den Lumpenladen verließ. Wagen und Karren aus Holz und Eisen ratterten hinter einer Schar von Zugtieren vorüber; die Schwester des Ladenbesitzers und ich hatten kaum den Fuß auf die Türschwelle gesetzt, als ich schon einen über die Türme der Stadt gleitenden Flieger hörte. Eben noch rechtzeitig blickte ich hoch und sah ihn, glatt wie einen Wassertropfen an einer Fensterscheibe.
    »Das ist wohl der Offizier, der dich aufgerufen hat«, meinte sie. »Er wird gerade zum Haus Absolut zurückkehren. Ein Hipparch der Septentrionen – hat Agilus das nicht gesagt?«
    »Heißt so dein Bruder? Ja, so etwas Ähnliches. Wie ist dein Name?«
    »Agia. Und du verstehst nichts vom Zweikampf? Und hast mich als Lehrerin? Nun, der hohe Hypogeon stehe dir bei! Wir müssen zunächst in den Botanischen Garten und eine Averne pflücken. Zum Glück ist er nicht weit von hier. Hast du soviel Geld, daß wir uns einen Fiaker nehmen können?«
    »Vermutlich ja. Wenn's sein muß.«
    »Dann bist du gar kein verkleideter Waffenträger. Du bist ein – was auch immer.«
    »Ein Folterer. Ja. Wann soll ich den Hipparchen treffen?«
    »Erst am späten Nachmittag, wenn die Kämpfe auf dem Blutacker beginnen und die Averne ihre Blüte öffnet. Wir haben viel Zeit, aber ich denke, wir nutzen sie besser damit, dir eine zu besorgen und dir beizubringen, wie man damit umgeht.« Ein zweispänniger Fiaker rollte schwerfällig heran, und sie winkte ihm. »Du wirst sterben, weißt du.«
    »Höchst wahrscheinlich, wie sich das anhört.«
    »Es ist praktisch sicher, also sorge dich nicht um dein Geld.« Agia tat einen Schritt in die belebte Straße, wobei sie für einen Augenblick (so wohlgestaltet waren ihre feinen Züge, so anmutig die Rundung ihres Körpers beim Heben des Armes) aussah wie das Mahnmal einer Unbekannten. Ich war mir sicher, das würde ihr Ende bedeuten. Der Fiaker fuhr vor sie hin, und die scheuen Tiere wichen tänzelnd zur Seite, woraufhin sie aufsprang. So leicht sie auch war, das kleine Gefährt schaukelte unter ihrem Gewicht. Ich schwang mich auf den Platz neben ihr, wo wir Hüfte an Hüfte saßen. Der Kutscher wandte sich zu uns um, Agia sagte: »Zum Standplatz am Botanischen Garten«, und wir holperten los. »Der Tod betrübt dich also nicht – das ist was Neues.«
    Ich klammerte mich mit einer Hand an die schwarze Rückenlehne des Kutschbocks. »Das ist bestimmt nicht ungewöhnlich. Es muß Tausende, vielleicht Millionen von Leuten wie mich geben. Leute, die mit dem Tod vertraut sind, die glauben, der einzig wirklich wichtige Teil ihres Lebens sei vorüber.«
    Die Sonne lugte nun über die höchsten Spitzen und färbte das staubige Pflaster rotgolden, was mich zum Philosophieren anregte. Das braune Buch in meiner Gürteltasche enthielt die Geschichte eines Engels (vielleicht tatsächlich einer der geflügelten Kriegerinnen, die angeblich dem Autarchen dienen), der mit dem einen oder anderen kleinen Auftrag auf die Urth gekommen war, vom Pfeil eines Kindes getroffen wurde und starb. Sein Herzblut rötete seine leuchtenden Gewänder, genau wie das zu Ende gehende Leben der Sonne die Straßen färbte, als er Gabriel persönlich begegnete. Sein Schwert blitzte in der einen, seine zweischneidige Axt schwang in der anderen Hand, und am Rücken hing, mit

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